Volltext: Kaiser Wilhelm der Erste

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sich der hochbetagte, lebensmüde Greis im Anblick der holden 
Kinderschar der Aussicht auf eine seinem Hause und seinem 
Volke erblühende glückliche Zukunft getrösten. 
Unsäglich traurig war für ihn die Gegenwart. Das letzte 
Jahr seines Lebens bereitete seinem Herzen das bitterste Weh. 
Waͤhrend er seine Kräfte jählings schwinden fühlte, mußte er 
erleben, daß eine tückische Krankheit seinem einzigen geliebten 
Sohne, dem Liebling des deutschen Volkes, das Lebensmark 
verzehrte. Noch im vorigen Jahre hatte der Kronprinz dem 
fünfzigiährigen Regierungsjubiläum der Königin Viktoria, der 
Mutter seiner Gemahlin, beigewohnt. Und als er in weißer 
Kürassieruniform in dem Festzuge daherritt, erschien er dem 
staunenden Volke von England als das Urbild eines deutschen 
Helden. Aber schon damals hatte ihn die Krankheit ergriffen, 
und die Kunst des englischen Arztes, von der er vertrauensvoll 
Heilung erwartete, konnte ihn nicht retten. So hoffte er denn 
in der warmen Luft des Südens die ersehnte Genesung zu finden. 
Von seiner Gemahlin und seinen Töchtern begleitet, die in sorg— 
samer Pflege des Kranken wetteiferten, reiste er nach Tirol; 
von da begab er sich nach Venedig und dann nach San 
Remo in der Nähe von Genua. Bisweilen schien es, als ob die 
Krankheit überwunden oder wenigstens zu einem Stillstand gekommen 
wäre. Allein im Jahre 1888 lauteten die Nachrichten über sein 
Befinden immer trostloser, und immer mehr schwand den schwerge— 
prüften Eltern die Hoffnung auf die Genesung des geliebten Sohnes. 
Aber auch die Kräfte des Kaisers schwanden von Tag zu 
Tag. Am 2. März hatte er noch eine Ausfahrt unternommen. 
Allein bei derselben zog er sich abermals eine Erkältung zu, die 
seiner Umgebung die schwersten Besorgnisse einflößte. Am 5. März 
war sein Zustand so bedenklich, daß es geraten schien, den Prinzen 
Wilhelm, den er mit einigen deutschen Ärzten nach San Remo ge— 
schickt hatte, unverzüglich zurückzuberufen. Auf dem Sterbebette 
noch bewährte der hohe Kranke seine gewohnte Gewissenhaftigkeit. 
Als ihm Fürst Bismarck den Erlaß vorlegte, durch welchen der 
Reichstag nach Erledigung seiner Geschäfte geschlossen werden sollte, 
und meinte, der Anfangsbuchstabe seines Namens dürfte zur Unter— 
zeichnung genügen, da schrieb er noch mit zitternder Hand seinen
	        
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