Volltext: Albrecht Dürer

So reich und so kühn gegen neuc Ziele vordringend sich die 
Jeutsche Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts dem Auge auch dar- 
stellt, so bietet sie doch kein Bild der Reife oder wohl gar der 
Vollendung. Sie bleibt vielfach noch in den Anfängen stecken und 
kann innere Widersprüche nicht völlig überwinden. Die überlieferten 
Anschauungen und Formen sind in diesem Zeitalter der Gärung 
und des Kampfes erschüttert worden und in Schwanken geraten, 
lie neue Kunstweise entbehrt noch des festen Grundes. Was noch 
zugelernt und viel weiter entwickelt werden musste, das war in 
erster Linie das Masshalten, die Harmonie. Sie fehlt den Bau- 
werken, an welchen die Glieder und Teile nicht in rechtem Ein- 
lange stehen, Üppigkeit und nüchterne Strenge sich mischen. Sie 
wird noch stärker in den Bildwerken vermisst. Die Freude an 
wahrheitsgemässer Schilderung verleitet zur breiten Ausmalung roher 
Leidenschaften, zur Übertreibung des Ausdruckes und der Em- 
pfindungen. Die wüsten Gesellen der Fastnachtsspiele, die Teufels- 
fratzen der Mysterien leben auch im Kreise der bildenden Künste 
Der Natursinn ferner beherrscht noch nicht die ganze Phantasie. 
Während für die einen Gestalten die überlieferten Typen gelten, 
‘usst die Wiedergabe anderer schon auf scharfer Naturbeobachtung. 
Frauenbilder, wie z. B. die Madonna, dann das Christkind gehen 
noch selten auf ein eindringliches Naturstudium zurück. Das letztere 
selbst wird auf die genauere Kenntnis der Geberdensprache be- 
schränkt, den richtigen Verhältnissen, den schönen Formen der 
Körper geringere Aufmerksamkeit geschenkt. Wie die Anordnung 
und Gruppierung der Figuren zwar meistens klar und deutlich, aber 
selten fein und frei ist, so erscheinen die einzelnen Gestalten wohl 
ebendig im Ausdrucke, aber gar häufig schlecht proportioniert. 
Selbst bei tüchtigen Meistern, wie Adam Kraft und Michael Wohl- 
gemuth, stösst man auf kurze Beine und lange Oberleiber, bald zu 
jrosse, bald zu kleine Köpfe, starke Hände und Füsse, aber mayere, 
schwächliche Arme und Beine, Dass die Gewänder bei der Haltung 
und Bewegung der handelnden Personen mitsprechen sollen. bleibt 
gleichfalls vielen Künstlern unverständlich. 
Um die Kunst weiter zu führen, that ein Mann not, welcher bei 
klarer Einsicht in die vorhandenen Schwächen die Abhilfe als seine 
persönliche Sache erfasst, den Widerstreit der Richtungen in sich 
selbst tapfer bekämpft und seine ganze Kraft für den Sieg der 
neuen Kunstweise einsetzt. Ein Mann that not, dessen immer 
'cger Natursinn auch das Kleinste und Feinste in der äusseren Welt
	        
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