Objekt: Eine anonyme deutsche Gottesdienstordnung aus der Reformationszeit

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„Um zu entscheiden, ob dem Choralgesang die musikalische Begleitung notwendig oder 
zuträglich ist, muß man bedenken, wie der Gesang selbst dadurch affiziert wird. ... Es läßt 
sich viel fir den Gesang ohne Orgelbegleitung sagen, man kann davon behaupten, was 
Platon von der Buchstabenschrift als Hülfsmittel des Gedächtnisses behauptet, daß das Ge— 
dächtnis als Fakultät darunter gelitten habe; so auch durch die Orgelbegleitung hat die 
Fakultät des Gesanges in den christlichen Gemeinden gelitten.“ Im allgemeinen „bildet die 
Begleitung des Gesanges mit der Orgel einen mittleren Zustand. Bei einer Orgelbegleitung 
wird sich eine Fertigkeit konstant erhalten, wird aber nicht zu einer solchen Vollkommenheit 
gelangen wie bei den Gemeinden, die ohne Orgelbegleitung singen. Die Orgelbegleitung 
bringt hervor, daß die Harmonie im Instrument eine hinlängliche Stütze hat, und die Ge— 
meinde singt im Unisono, so daß, wenn auch unrichtige Zwischentöne vorkommen, diese im 
Unisono und in der Harmonie des Instruments untergehen“ (XIII, 170 f.). Ob aber begleitet 
oder nicht, bei jedem Kirchenlied ist jedenfalls zu verlangen, „daß alles Gesungene auch 
gedichtet ... sein muß“ (V, 103). Dagegen kann „die verwunderliche Bedenklichkeit“ 
nicht aufkommen, „als ob die Poesie eigentlich zu hoch wäre für das Volk und unverständ— 
lich“ (vV, 106). „So viel ist doch gewiß, daß es von jeher eine religiöse Poesie gegeben hat, 
und daß sich viel solcher aufzeigen läßt, die eine bleibende und kräftige Wirkung auf das Herz 
bei empfänglichen Menschen nicht verfehlt“ (V, 107). Zugleich freilich muß hier „alles 
kirchliche auch fromm sein“ (V, 103). Diese „christliche fromme Gesinnung kann sich 
ebensogut durch Betrachtung über religiöse Lehre zu Cage legen, als dadurch, daß sittliche 
Ansichten und Entschließungen ausgesprochen werden; beides sind nur mittelbare AÄußerungen 
der Frömmigkeit“ (V, 104). Daher sind ebensowohl „dogmatische“ oder „symbolische“ als 
„moralische Lieder“ am Platz. Aber nicht nur „poetisch“ und „fromm“ muß ein Nirchenlied 
sein, sondern zugleich sangbarz; d. h. es ist zu verlangen, „daß mit dem musikalischen Schluß 
auch der Sinn wenigstens bis auf einen gewissen Grad abgeschlossen werden muß“ (V, 636). 
Und gemäß der „gerechten Forderung der Gemeinde“, die „zur Erbauung zweckmäßige 
Lieder“ will, muß endlich, um wirklich „Volksmäßigkeit der kirchlichen Gesänge“ zu erreichen, 
„der Kirchengesang durchaus verständlich sein“, und es darf „auch nichts einzelnes 
darin vorkommen, was als wunderlich und unwürdig auffällt und den Eindruck des Ganzen 
stört.“ „Da gilt's zu denken an des seligen Bansteins Sprüchlein: Christine versteht's nicht“ 
(V. 640). 
Zu einer gewissen Zeit kann nun ein „Gedicht“ allen diesen Anforderungen genügen; 
es kann „kirchlichen Charakter“ haben und kann darum „zur kirchlichen Anerkennung“ ge— 
langen, dadurch, „daß es in das Gesangbuch aufgenommen wird“; denn „so sind auch in der 
evangelischen Kirche alle Kirchenlieder aus dem Privatcharakter in den öffentlichen über— 
gegangen durch die That, nicht durch gesetzgebende Akte“ (XIII, 179). Mit fortschreitender 
Zeit kann aber in einem solchen Lied manches „wunderlich und unwürdig“ erscheinen. „Die 
Sprache leidet so viel Veränderungen, daß vieles antiquiert wird; es kann etwas aufhören, 
verständlich zu sein und einen ganz andern Eindruck auf das Gefühl machen, als es zu seiner 
Zeit gemacht hat; was familiär war, kann anstößig werden.“ Daher, „sollen im öffentlichen 
Gebrauch die Produktionen verschiedener Zeiten zusammen sein, so müssen sie so aufgenommen 
werden, daß, was dieser Zeit widerstrebt, modifiziert werde“ (XIII, 182). Mit solchen Modi— 
fikationen tritt man dem Dichter nicht etwa zu nahe; der Bearbeiter „hat nun zum Verfasser 
gar kein Verhältnis mehr, sondern nur zu der Gemeinde“ (V, 642). überdies läßt sich be— 
haupten, „daß derjenige nicht könnte ein frommes christliches Lied gedichtet haben, der nicht 
gern seine Einwilligung gäbe zu allen Veränderungen, welche für nötig erachtet werden, 
um es in kirchliche Ausübung zu bringen und dann auch darin zu erhalten, auch wenn er 
kein Mittel wüßte, es daneben auch in seiner ursprünglichen Gestalt zu bewahren. Denn 
von welcher Eitelkeit müßte der besessen sein, der nicht dies für die größte Ehre hielte, und 
wenn es ihm noch bei seinem Leben begegnete, daß ... Männer zu ihm kämen und sagten: 
„„Du hast da ein schönes Lied gedichtet und wir möchten's gern unter die Gemeinde bringen; 
aber es sei nun, daß du es dazu nicht ursprünglich gemacht hast, oder daß du doch nicht ganz
	        
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