Inhaltsverzeichnis: Eine anonyme deutsche Gottesdienstordnung aus der Reformationszeit

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Menschen vor und außer Christus, aus eigenen Kräften zu göttlicher Erkenntnis 
zu gelangen, betont wird, ebensowenig ist die Möglichkeit der Rulturwirkung, also 
auch der Runstleistung, je bestritten worden, auch nicht in dem symbolgläubigen 
Jahrhundert. Im Gegenteil, regelmäßig steht neben der Behauptung des einen 
Moments das Zugeständnis des zweiten. Ja, man darf noch weiter gehen und 
sagen, daß erst der Protestantismus durch Setzung eines neuen, die dualistische 
Weltanschauung des Katholizismus negierenden Cebensideals die rechte, freie Stellung 
zur Kunst ermöglicht hat. Eine Kirche, welche die irdische Welt nicht zu werten 
versteht, sondern sie in allen ihren Erscheinungen in zweite Linie stellt, verglichen 
mit dem Kirchlichen und Religiösen, kann der weltlichen Kunst kein volles Ver— 
ständnis entgegenbringen, sondern wird in ihr immer eine Kunst niederer Ordnung 
sehen. Der Protestantismus dagegen kennt die Wertskala einer religiösen und 
weltlichen Kunst nicht, sondern bemißt die Kunst ohne jene Unterscheidung nach 
ihren eigenen Gesetzen und Idealen. Darum hat nicht der Katholizismus, sondern 
der Protestantismus das rechte positive Verhältnis zur Kunst. Ein Urteil über 
einzelne Künstler ist damit nicht ausgesprochen; es handelt sich uns nur darum, 
die Stellung der beiden Konfessionen als solcher zu präzisieren. Das Ergebnis ist 
das gerade entgegengesetzte als das von dem genannten Kunsthistoriker von un— 
richtigen Voraussetzungen aus gewonnene. 
Allerdings muß zugestanden werden, daß innerhalb des geistlichen Amtes 
Neigung und Verständnis für die christliche Kunst in der römischen Kirche im all—⸗ 
gemeinen größer sind als in der evangelischen. Das will indes nicht aus dem 
Wesen der einen und der anderen Kirche heraus erklärt sein, sondern aus der 
unterschiedlichen Weise der Vorbildung. Die praktische und traditionelle Richtung 
der wissenschaftlichen Erziehung des Klerikers ist ihrer ganzen Art nach mehr auf 
Berücksichtigung auch der Runst der Kirche gewiesen als das anders gestaltete 
protestantisch⸗ theologische Studium. Wie spät hat man hier z. B. auch mit der 
Citurgik eingesetzt. Als Verfasser in den ersten achtziger Jahren in Leipzig Vor— 
lesungen über das evangelische Kirchengebäude und die Archäologie der mittel— 
alterlichen Kunst begann, so war das in den evangelisch⸗ theologischen Fakultäten 
damals etwas ganz Neues, während die altchristliche Kunst sich bereits hier und 
dort heimisch gemacht hatte, besonders in Berlin durch das eifrige Bemühen 
Ferd. Pipers. Auch gegenwärtig noch hat letztere das Übergewicht. Ganz mit 
Unrecht. Denn so sehr sie Ausgang und Basis für jegliche Forschung auf 
dem Gebiete der christlichen Kunst ist, so liegt uns geschichtlich und inhaltlich die 
kirchliche Kunst des Mittelalters viel näher. In der philosophischen Fakultät wird 
der nach Kenntnis derselben verlangende Theologe nur selten Befriedigung finden, 
da dort die Renaissance das Mittelalter fast völlig verdrängt hat und trotz einzelner 
Ausnahmen das Verständnis der mittelalterlichen Kunst im allgemeinen ein 
mäßiges ist. Aus dieser Sachlage erwächst den theologischen Fakultäten die Ver— 
pflichtung, ihrerseits für Ausgleich dieses Mangels nach Kräften Sorge zu tragen 
und den jungen Theologen nicht die Möglichkeit vorzuenthalten, ihre theologische 
Bildung in dieser Richtung zu vervollständigen. Wie der wissenschaftliche und 
praktische Betrieb der Liturgik zum größten Segen der gottesdienstlichen Feier neuer⸗ 
dings an den Universitäten ein ganz anderer geworden ist, so ist derselbe Fortschritt 
auch hinsichtlich der kirchlichen Kunstgeschichte zu erstreben. Doch zunächst ist mit 
den unzulänglichen Verhältnissen noch zu rechnen, und darin möge der im folgenden
	        
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