Volltext: Eine anonyme deutsche Gottesdienstordnung aus der Reformationszeit

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Sollte unser deutsches Volk im Durchschnitt wirklich nur ca. 30 Melodien 
in kirchlicher Ubung haben? Welch eine Menge von herrlichen geistlichen Liedern 
würde damit vom kirchlichen Gebrauch ausgeschlossen sein! Sie werden ja gewiß 
hier und da im Hause und wohl auch einige im Religionsunterricht gelesen. Aber 
rechte Wirkung thut doch gewiß nur das mit innerster Herzensteilnahme gesungene 
Cied, und viele Gemeindeglieder werden an den nicht gesungenen Liedern einfach 
vorübergehen und sie kaum kennen lernen, geschweige denn lieb gewinnen. Man 
frage sich nur: was wären uns unsere herrlichen Cieder, Ein' feste Burg, Eins 
ist not, Cobe den Herren, O daß ich tausend Zungen hätte, Fahre fort, Fion fahre 
fort, Wie schön leuchtet der Morgenstern, Wie soll ich dich empfangen u. s. w. 
wenn nicht der gemeinsame Gesang die Seele wie auf Adlersfittichen hinauf zu 
dem Herrn unserm Gott und seinem Gesalbten erhöbe? 
Vielleicht gelingt es, ein ziemlich genaues Bild über die Verbreitung der 
Choralmelodien in unserer deutschen evangel. Kirche nach zuverlässigen An— 
gaben mit der Seit zu zeichnen. Unsere hiesigen Gemeinden sind gar nicht her— 
vorragend singelustig oder musikalisch beanlagt. Dennoch ist es wiederholt gelungen, 
eine leicht ins Ohr fallende neue Melodie, war sie zwei-, dreimal für den Gottes— 
dienst gewählt, von der ganzen Gemeinde singen zu lassen. Hier werden Pastor 
und Lehrer mit Freuden ihre Schuldigkeit thun; der erstere, wenn er im Besitze 
kräftiger Stimmmittel ist, auch dann, wenn er zweimal zu predigen hat, in der 
Muttergemeinde und im Filial. Er muß, wenn er kann, freudig vorangehen, und der 
Organist (Lehrer) darf nicht bloß auf der Orgel sitzen und spielen, sondern er 
muß, zumal er ja in der Regel von der Übung und Vorbereitung in der Schule 
her die Melodien wie die Lieder kennt, mit warmem, singfreudigem Herzen in der 
Gemeinde einsetzen und ein Kantor sein, der hell und klar — neben den Re— 
gistern des Orgelwerks — vor allem auch sein eigenes Register in der Kehle 
zieht. Ich setze natürlich voraus, daß nach der anstrengenden Schularbeit der 
Woche ihm noch Stimme zur Genüge für den Sonntag verbleibt, um dem himm— 
lischen Lehrmeister (Evang. Johann. 7, 16. 17) ein Cob- und Dankopfer dar— 
zubringen. So wird, wenn alles in eins klingt, Gemeinde, Pastor, Organist und 
Kantor, sich vieles Herrliche und das Herz Erhebende — ich möchte sagen: mit 
leichter Mühe — erreichen lassen, und es mögen alle Beteiligten in Vorahnung 
dessen stehen, wie sie im Himmelreich einmal um den Thron des Häöchsten tief 
dankbar singend und jubilierend ihren Gott in Ewigkeit preisen werden. 
Wir erfreuen uns in Rheinland und Westfalen eines neuen Gesangbuchs 
mit 537 Liedern; die einfache Ausgabe, leidlich gut gebunden, mit Noten bei 
jedem Liede, kostet Mark. Die Noten machen manchem, der gerne singt, rechte 
Freude; er lernt sie kennen, er lernt nach ihnen singen, auch der einfache Mann 
vom Cande. In diesen Tagen (Anfang April) habe ich noch einmal die Melodien 
des neuen Gesangbuches gezählt, wie sie jeder Zeit von der Gemeinde gesungen 
werden können; es waren deren 66. Unsere Gemeinden besinden sich in sehr mittel— 
mäßiger Vermögenslage, nur ganz wenige sind leidlich bemittelt. Nur um anderen 
Mut zu machen, teile ich noch mit, daß innerhalb von Jbis I/, Jahren der Kirche 
der Muttergemeinde von einem Gemeindeglied eine Orgel neu geschenkt worden ist, daß 
der Orgel in der Filialkirche zwei neue wichtige Register eingefügt wurden: Flöte 8 
und Subbaß 16. Auch die ärmsten Tagelöhner zeichneten zu den Kosten (über 
200 Mark) ihre Scherflein, und als die Summe gezahlt werden mußte, waren die 
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