Volltext: Beiträge zu Dürers Weltanschauung

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die Kirche doch Recht habe. Denn vorläufig drohte ja in der 
That die ganze Entwicklung zur individuellen Freiheit, die ganze 
Laienkultur und die grossartigen Offenbarungen der weltlichen 
Wissenschaften, von Gott abzuführen. Die umwälzenden Entdeck- 
ungen, die kolossalen Fortschritte der Civilisation, der Naturerkennt- 
nis und Technik, die ganze neue Gedankenwelt des „Jahrhunderts 
der Entdeckungen“, wie man das 15. Jahrhundert getrost nennen 
kann, in Einklang zu bringen mit einer neuen geläuterten Gottes- 
erkenntnis, mit neuen religiös-sittlichen Lebensgrundsätzen, dazu 
war dieses Zeitalter noch nicht im Stande, dazu war alles noch 
zu neu, zu blendend und überraschend. Das Gefühl hatte man 
wohl, dass es eine religiös-sittliche Einheit der Persönlichkeit geben 
müsse, aber wo sie zu finden, wie sie zu erringen sei, darüber 
war man sich noch völlig im Unklaren. Auch war die Wirkung 
der neuen Ideen auf die breiten Massen erschreckend. Das Alte 
zerbröckelte, eine Schranke fiel nach der andern, noch aber fehlte 
es an den neuen, auf eigene Verantwortung zu ziehenden Gren- 
zen des Daseins. Ein krasser Materialismus und abstossende Roh- 
heit sind ausgesprochene Züge im Charakter des 15. Jahrhunderts. 
Kein Wunder, dass in solcher Uebergangszeit viele der 
edleren Naturen es immer noch für besser hielten, in den alten 
Geleisen der offiziellen Anschauungen vorsichtig, wenn auch nur 
noch mit halbenı Herzen, weiterzugehen, als sich ganz dem 
schwankenden Boden der neu heraufsteigenden Weltanschauung 
anzuvertrauen. Wie man in Staat und Gesellschaft dem immer 
näher kommenden längst vorausgeahnten Unisturze durch sorg- 
fältige Mumifizierung der überkommenen Einrichtungen entgegen- 
zuarbeiten strebte, so suchte man auf kirchlichem Gebiete durch 
äussere Werkheiligkeit und grossartige Stiftungen sich über den 
tiefen Riss zwischen Religion und Weltleben hinweg zu täuschen. 
UVeberwältigend ist der kirchliche Baueifer im 15. Jahrhundert, 
die prachtvolle Ausstattung der Gotteshäuser, die Zahl wohl- 
thätiger Stiftungen. Es ist der äussere Tribut an die zur Zeit noch 
herrschende Gewalt. Insgeheim suchte man Trost in der MmyS- 
tischen Erbauungslitteratur und in religiösem Sektenwesen. Schon 
die Titel der gelesensten religiösen Velksschriften jener letzten Jahr- 
zehnte vor der Reformation zeugen von der Unbefriedigtheit, von 
der Gewissensangst jener Geschlechter, von dem unruhigen Suchen
	        
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