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sein, ohne Zweifel. Entweder der Künstler ist ein Herdentier, dann
hält er sich an ein erprobtes Schema, oder er ist ein genialer
Neuerer, dann stellt er zuerst das Ganze in genialem Wurf hin.
Dürer hält sich nicht ans erprobte Schema, aber es gelingt ihm:
auch nicht der geniale Wurf; gewiß war er ein Genie, aber: er hatte
fremde Kunst zu sehen bekommen, sehr großartige Kunst, ganz
anders als seine nürnbergische — das hat ihm bei vielen Kom-
positionen die Naivetät verdorben. Wer über die frühen Dürerschen
Kompositionen orientiert ist, der weiß, daß dies nicht das einzige
Beispiel sonderbarer Entstehung ist. Die Figuren des Großen Satyrs
sind aus drei verschiedenen italienischen Vorbildern zusammen-
gestellt. Neben solchen direkt unkünstlerischen Zusammenstel-
lungen finden sich andere echt künstlerische Konzeptionen. Ich
habe über diese eigentümliche Schwäche des frühen Dürer ein-
gehender gehandelt im XXVI. Band des Repertoriums für Kunst-
wissenschaften, S. 447 ff. Diese Schwäche in der Komposition ver-
gleicht sich der Schwäche und Unselbständigkeit bei den nackten
Figuren, die ihn nach manchen Anläufen schließlich einen für uns
ganz überraschenden Ausweg einschlagen läßt: er arbeitet ein geo-
metrisches Schema für den nackten Körper aus (wie ich an anderer
Stelle ausführlich - dargelegt habe). Beides, das Zusammenstellen
der Bildelemente wie das Konstruieren der Figuren, sind zum großen
Teil Resultate gestörter Naivetät und geschwächten Selbstbewußt-
seins gegenüber den imponierenden Werken der italienischen Kunst.
Wenn Dürer. alle Figuren, die für die Bildfläche . wesentlich
sind, d. h. Maria mit dem Kinde und zwei Engel mit der Krone,
von vornherein als Ganzes konzipiert hätte, so. würden sie natürlich
ganz anders aussehen, vor allem würden die Engel viel größer sein,
ihre Masse würde der Masse der Madonnengruppe proportioniert
sein, das Ganze einen einheitlichen Aufbau bilden. Durch die Art
der Entstehung, wie wir sie eben dargestellt haben und wie sie für
den frühen Dürer charakteristisch ist, durch das allmähliche An-
stücken der Details an eine gleichsam fertig hingestellte Madonnen-
gruppe, durch diese höchst eigenartige Entstehungsweise erklärt sich
der höchst eigenartige Charakter des Bildganzen. Es ist dadurch