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deutung, während das realistische wie stilistische Studium der ganzen menschlichen
Gestalt im Zeitalter der Renaissance durch Herstellung von Abgüssen nach der
Natur wie nach der Antike gewiss schon vor Verocchio wesentlich gefördert wurde.
Der Gypsabguss nach plastischen Vorbildern und nach der Natur wird auch
neute noch mit Recht als ein wichtiges Hilfsmittel sowohl für den ausübenden
Künstler und Kunsthandwerker, denen er eine Fülle von Formen, Motiven
und Anregungen während ihres Schaffens in bequemster und Zzuverlässigster Weise
vor Augen führt, als auch besonders für die Ausbildung der Formenkenntnis und
der künstlerischen Auffassung und Ausführung an den verschiedenartigen Kunst-
und Gewerbeschulen angesehen. Auch fehlt es an keiner dieser Schulen an
mehr oder weniger reichhaltigen Gypssammlungen, welche passende Vorbilder für das
Studium und die Nachbildung verschiedenartiger Kunst- und Naturformen enthalten.
Der Umstand, dass während der Herrschaft des akademischen Klassizismus
das Zeichnen und Modellieren nach Gypsabgüssen nicht wenig dazu beitrug, den
Sinn für individuelle Formen und das Farbengefühl der Kunstschüler abzuschwächen,
;st wohl nicht so sehr dem Gyps an sich zur Last zu legen, als vielmehr der
Wahl der Vorbilder, zu deren Abguss er hauptsächlich dienen musste, sowie der
ainseitigen und übertriebenen Schulung — auch der Maler — an Gvpsabgüssen,
nit Hintansetzung der Naturstudien.
Wenn aber hieraus hervorgeht, dass der Gypsabguss als Modell für Nach-
»>ildungen an Kunstschulen nur mit vorsichtiger Auswahl und unter der um-
zichtigen Leitung von Lehrern verwendet werden darf, so fällt dies Bedenken fort,
wo es sich nur um ein analysierendes und vergleichendes Formen-
;tudium plastischer Werke handelt, wie es der theoretische Unterricht
an Kunstschulen, sowie besonders die wissenschaftlichen Untersuchungs-
ınd Lehrmethoden an den Lehrstühlen der Archäologie und Kunst-
zeschichte in sich schliessen und erfordern.
Für ein solches Studium, welches nicht sowohl bezweckt, irgend welche unmittel-
are künstlerische Anregung einem plastischen Werke zu entnehmen, als vielmehr
dessen historischen Stilcharakter zu erkennen oder zu erläutern, ist
der Gypsabguss ein fast vollwertiger Ersatz für das Original-
werk. Sticht ersterer auch unvorteilhaft von letzterem ab durch seinen stumpfen
Kreideton, sowie durch seine schärferen Schattenwirkungen, so bietet er für diese
Mängel (die sich übrigens teilweise beheben lassen) dem kritischen Formenstudium
veichlichen Ersatz durch die grössere Leichtigkeit, womit er in den meisten Fällen
im Gegensatz zum Original —- minutiöse Einzeluntersuchungen gestattet, ebenso
wie in einer Gypssammlung das vergleichende Studium einer Reihe von
Bildwerken in viel sichererer Weise vorgenommen werden kann, als vor den zer-
streuten Monumenten selbst, deren Vergleichung nur nacheinander, mit Hilfe des
Gedächtnisses, oder im besten Falle mit Hilfe von Zeichnungen und Photographien
durchführbar ist.
Wie belehrend solche Untersuchungen und Vergleichungen in einem halbwegs
zut eingerichteten Gypsmuseum sind, das hat wohl jeder schon erfahren, der die
Gelegenheit hatte, archäologischen Vorlesungen und Demonstrationen im Gypssaal
9eizuwohnen. Ein Schüler erhält da in einer Stunde mehr Einsicht in das Wesen
ınd die Geschichte der Plastik, als er sie mit blosser Hilfe von Photographien und
anderen graphischen Behelfen kaum jemals erlangen würde.