Volltext: Die Jerusalemfahrt Joachim Rieters aus Nürnberg (1608-1610)

L70 
STEIG 
ermesse. So mancher, der in die aufgehende sonne schaut, ohne zu 
denken was er sieht; wenn nun ihm, dem sie vor andern aufgegangen, 
kein lichtstrabhl der erinnerung bleibt, was sollen die andern glauben, 
die ihn darnach fragen? 
Weiblingen. Diese beschreibung ist wie ein reines feingebil- 
detes gedeck, welches der sorgende wirt vor seinen gästen ausbreitet. 
Die geschirre und vorbereitungen zum feste sind so edel, dass wir mit 
lust und begierde uns zu der fülle des genusses wenden. 
Der pallast des Barbarossa. Bis hierher hat uns der dichter 
auf anschaulichen und umschaulichen wegen bis zu der höhe geführt, 
wohin ein jeder gemütliche gelangen will, und was ihm das allein fess- 
{ende im leben wird. Die beiden eheleute mit dem freund, dem kind 
und der lahmen elster bilden einen kreiss, in welchen der gewanderte 
gern sich einpflanzen mag, der wol weiss dass nach dem rausch des 
lebens nichts übrig bleibt als ein besinnen und wiedererkennen an dem 
was uns am nächsten verbunden. Die schauerliche ahndung und ängst- 
liche sorge, die in den beiden ersten geschichten sich nach allen sei- 
‘en hin bewegen, um die geschicke gleichsam herbeizuziehn, die ihr 
daseyn rechtfertigen, ruhen hier wie abgeschirrte lasttiere von der 
mühe des tags. Aber plötzlich entfaltet sich der teppich, üppig und 
überfüllt wie der kindersinn in den ersten jahren, in dem auffinden 
der ruinen des pallasts; überschwenglich scheint dem kleinen Berthold 
der reichtum und mannigfaltigkeit der mit seltnen pflanzen und bäu- 
men durchwachsnen ruinen und steinbilder, das glück seines lebens ist 
gehäuften maasses vor.ihm ausgeschüttet. Mit freudigem entzücken 
reisst er es an sich: „Es ist mein, ruft er, ich will es ausbauen!“ 
Die dichtung zeigt ihre doppelbildung hier im reinsten licht, in der 
höchst wahren kindlichen darstellung, sie spiegelt sich in jedem tief- 
fühlenden herzen. Haben wir nicht, noch ehe uns die geschicke hin- 
ausrissen, eine grenze für uns aufgefunden, in der uns unsere lebens- 
plane überfüllt herrlich erscheinen, grade die grenzen, die dem erfahr- 
nen eine andeutung und aussicht in ungemessne weite geben? und ist 
darum die freude des kindes herzzerspringend für uns und den alten 
Martin, der in diesem gefühl sein herrlich schauerliches lied singt. 
Die ahndung vom reichtum der dichtung gehet von hieraus nach allen 
seiten, sie gewinnt unwillkürlichen bezug aufs innere und äussere 
leben, und wir wünschen dem dichter kraft die zügel seines geistes 
und fantasie festzuhalten, die schon hier im liede wie mutige pferde 
mit ihrem gebiss spielen — so hat er gewonnen spiel.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.