Volltext: 1828-1833 (1. Band)

Kaspar widerlegt die Erbsünde. 
77 
her betrachtete er alle Pflanzen als menschliche Kunstprodukte und wunderte 
sich, wie es doch möglich sei, daß die Menschen so viele Blumen machten, 
so viele Blätter auf den Bäumen ausschnitten, und wozu? — Kaspar ist 
übrigens ein Mensch von den herrlichsten Naturanlagen, begabt mit der 
schnellsten Fassungskraft und einem bewundernswürdigen Gedächtnisse. 
Seinen Durst nach Wissen, um alles das nachzuholen, „wozu ihm der, 
bei dem er gewesen“, nichts gesagt, äußert er immer auf eine wahrhaft 
rührende Weise. Was er nur immer sieht, davon will er die Erklärung, 
und hängt diese von Begriffen ab, die ihm noch fremd sind, so sagt er 
traurig: „auch das noch lernen! auch davon hat der, bei dem ich gewesen, 
mir nichts gesagt.“ Seine Fortschritte sind außerordentlich; wozu andere 
Monate oder Jahre brauchen, lernt er in Tagen. Gegenwärtig ist er 
schon so weit, daß kaum noch interessante psfychologische Betrachtungen an 
ihm zu machen sind. Er spricht schon vollkommen verständlich und zusammen— 
hängend, nur konstruiert er oft noch die Sätze wie ein Kind; seine Hand— 
schrift ist fest, beinahe schön, und vor einigen Tagen erhielt meine älteste 
Tochter, die ihn zu Nürnberg besucht und dann beschenkt hatte, einen recht 
artigen Brief von ihm. Ganz für sich selbst fing er zu zeichnen an und 
machte darin bald ebenfalls bewundernswürdige Fortschritte. Sieht er eine 
Kunst oder Fertigkeit üben, die ihn interessiert: sogleich will er sie lernen, 
läßt sich zeigen, wie man es macht, ahmt es in einem oder einigen Tagen 
schon bis zu einer gewissen Vollkommenheit nach, giebt es aber, sobald er 
es gelernt hat, wieder auf. Ueberhaupt ist es merkwürdig, daß ihn nicht 
sowohl die Gegenstände des Lernens interessieren als das Lernen selbst, das 
seine einzige Leidenschaft ist. Was kaum erklärbar, ist die erstaunliche 
Liebe zur Reinlichkeit und Ordnung, die er gleich nach seinem Erscheinen 
in Nürnberg äußerte, obgleich sein Leib mit einer Haut von vieliährigem 
Schmutz überzogen war. 
Alle die unzähligen Dinge, womit ihn die Nürnberger beschenkt hatten, 
Spielsachen, Kleidungsstücke u. s. w., standen in seinem Zimmerchen auf 
das schönste symmetrisch geordnet da, als ich ihn besuchte, jedes Papierchen, 
das auf dem Boden lag, war ihm zuwider und wurde sorgfältig aufgehoben; 
an seinen oder eines andern Kleidern bemerkte er jeden Schmutzfleck, jedes 
Stäubchen. Die Nürnberger haben ihn mit allem Nötigen, sogar mit 
vielem Überflüssigen, mit neumodischen Fracks, Westen u. s. w. versehen, 
und nun glaubt man in ihm, wenn er ausgeht, einen halben petit-maitre 
üor sich zu haben. — In sittlicher Beziehung ist Kaspar Hauser eine 
lebendige Widerlegung des Lehrsatzes von der Erbsünde. Die reinste Un—
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.