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allgemeinem Interesse ist, weil sie in knapper Form das
Programm Frankels und des Breslauer Seminars enthält
»Sie fragen ferner in Ihrer Zuschrift nach der Rich
tung des Herrn Dr. Buchholz, bemerken hierbei,
dass die überwiegende Mehrheit der Gemeinde den
fortschrittlichen Tendenzen des Judenthums zugethan
sei und wünschen Aufschluss, ob Dr. Buchholz ehr
lich in diesem Sinne zu wirken geeignet sei. Gestatten
Sie mir, hochzuverehrende Herren, vorerst meine Auf
fassung der »fortschrittlichen Tendenzen des Judenthums
in einigen Worten darzulegen. Dass eine Gemeinde
in ihrer Gesamtheit oder auch nur in ihrer Mehrheit
subversive, das Judenthum in seinen Grundlagen er
schütternde und sein Bestehen bedrohende Tendenzen
verfolge, ist nach meiner Ueberzeugung undenkbar;
noch lebt in uns das Durchdrungensein von dem Werth
des hohen und göttlichen Gutes, das unsere Väter
durch den reissenden und wirbelnden Strom der Jahr:
hunderte getragen, als dass wir es von uns werfen,
nicht mit Stolz auf dasselbe zurückblicken, es unseren
Kindern übergeben und für alle Zeit bewahrt wissen
wollten. Dies zu erreichen ist das Ziel und Streben
des besonnenen Fortschrittes: er ist sich bewusst, dass
im Laufe der Jahrhunderte und in Folge des Druckes
manches den Glauben Verunstaltende und seine Rein:
heit Beeinträchtigende sich angesetzt; dieses will er
im Interesse des Glaubens selbst, in dem eifrig gehegten
Wunsche, ihn noch den späten Nachkommen zu ver
erben, entfernen und Erhebendes und Veredelndes an
dessen Stelle setzen. Und wohl wird der fromm-
denkende, vom starren Bigotismus ferne Rabbiner auf
derartige Bestrebungen eingehen. Hat er diese Ueber-
zeugung erlangt, dass das Verlangen nach Ver-
besserungen nicht der Nachahmungssucht und dem
sogenannten Concediren an den Zeitgeist, sondern
dem wahrhaft religiösen Verlangen sein Entstehen
verdankt, so wird er den Verbesserungen nicht nur
nicht fern stehen, sondern sie selbst nach Kräften
fördern. Ein solcher Mann ist Herr Dr. Buchholz«
u. s. w. 1)
) Schreiben vom ı7?. April 1872