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Wir hören aus dem Altertum, daß die Athener förmlich wild
wurden, wenn in einem Verse ein Hiatus vorkam und daß sie gele—
gentlich einen Dichter durchprügelten, weil er einen Versfuß falsch
gebaut hatte. Wenn sich darin eine freilich übertriebene Feinfühligkeit
für den Wohlklang und den natürlichen Rhythmus der Sprache aus—
spricht, so möchte man dem gegenüber von den Meistersingern sagen,
daß sie gerade jedes rhythmischen Gefühls völlig bar sind und den
Sinn für wohlklingende Versformen so gut wie ganz verloren zu
haben scheinen. Der Meistergesang sollte zum Unterschiede vom Volks—
gesang ein Kunstgesang sein. Wie aber wurde dieser verstanden! Rein
mechanisch wurden die Silben gezählt, ohne Rücksicht auf den Rhyth—
mus, und die künstlich verschlungenen Reimbildungen sind häufig von
der Art, daß man sie nur auf dem Papier, nicht mit dem Ohre wahr—⸗
zunehmen vermag. Allerdings darf das eine nicht vergessen werden,
daß die Meisterlieder nicht für den Vortrag, sondern ausschließlich für
den Gesang geschrieben wurden. Sie wurden nicht gesprochen, sondern
gesungen und es wurde dabei auch auf eine gute Stimme Gewicht
gelegt. Wer
„Die Reimen singt zu kurz und lang
„Hat auch kein gute Stim zum Gsang,
„Dem hört man auch nit geren zu,
belehrt uns ein Meistersinger selbst. Wenn also Hans Sachs gleich
in den ersten Verszeilen mit so prosaischen Worten, wie, in dem zwanzigsten
Kapitel“ u. s. w. die Bibelstelle, der er seine Betrachtungen entnimmt,
zu bezeichnen pflegt, so muß man sich daran erinnern, daß über dem
musikalischen Wohllaut selbst der ödeste, abgeschmackteste Text völlig ver—
gessen werden kann. Also die Lust und Freude an der „Musica“, in deren
Lob ja Luther seiner Zeit so rühmlich voranging, war es zum großen
Teil, was die Handwerker so zahlreich in die Räume der Singschule
gelockt hat. Allerdings haben die durch Angabe der Gesangsnoten bis
auf unsere Zeit gekommenen Melodieen für unser modernes Ohr nur
wenig Reiz. Von einer schöpferischen Phantasie nimmt man so gut
wie nichts wahr. Doch soll sich nach dem Urteil von Kennern auch
manches ansprechende darunter finden. Die Lieder wurden einstimmig,
ohne Begleitung von Instrumenten vorgetragen, die Noten sind fast
durchweg gleichwertig, eine Taktteilung fehlt, — sie war jener Zeit
überhaupt noch nicht bekanut — das ganze bewegte sich nach Art eines
hier und da durch Koloraturen (sog. Blumen oder Fiorituren) unter⸗
brochenen einförmigen Opernrecitativs ohne rhythmische Bewegung fort.
Der Inhalt der Meisterlieder war vorzugsweise ein geistlicher,
in der katholischen Zeit nicht selten die unfruchtbarsten scholastischen