Volltext: Die neue Zeit

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Jahr unserer Ehe so gut kenne, auf Deinem Schreib— 
tisch neben der kleinen Bibel sieht, so lange will ich 
auch der Abende eingedenk sein, wo ich lernte: 
„Du sollst.““ 
„Hat mein Weib noch mehr in diesem Buch 
gelesen?“ 
Josephine errötete. „Versucht hab' ich's, nicht 
aus Neugier — ich wollte ganz erfassen, was mein 
Liebster so gründlich studierte — es hatte mich ge— 
lüstet nach des Mannes Wissen.“ 
„Nun?“ 
„Beschämt hab' ich's zur Seite gelegt. Ich 
hab' erkannt, wie schwachen Geistes Vein armes 
Weib ist, Sebastian. Und ich habe die Lehre ge— 
zogen, daß das Weib sich bescheiden soll. Und nun 
hätte mir der wunderbare Katechismus fast meine 
ganze Ruhe gestört. Aber jetzt ruf den Vikar. Sieh, 
wie er an den Rosenbäumen steht und nicht wagt, 
heranzukommen.“ 
Frau Josephine schritt vom Tisch tiefer in den 
Garten, während Rottinann gedankenvoll zu dem 
Rosenbeet ging, an dem der Vikar mit düsterer 
Stirn stand und auf die geknickten Stämmchen sah. 
„Mein Weib hat mir eben ein Wort gesagt, 
das ich vor Jahren aus eines Großen Lebenswerk 
schälte und das mir Moral und Gesetz wurde, Herr 
Vikar. „Du kannst, weil Du sollst.“ 
„Ein Weib im engen Kreis tut sich leicht, 
Herr Rottmann,“ antworiete finster Gotthold Weber. 
„So urteilt der unerfahrene Mann rasch!“ 
Rottmann stand, die Hände auf dem Rücken. „Und 
er ahnt nicht, daß auch das Weib kämpfen muß, 
sfich zur Klarheit durchkämpfen und sich aufrichten 
kann an dem — du sollst!““
	        
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