Volltext: Offizieller Bericht über die Verhandlungen des Kunsthistorischen Kongresses zu Nürnberg

Stabkirche aber auch die Anforderungen des Kultus, die bisher nur in der Stein- 
kirche gänzlich befriedigt waren, in vollendeter Weise zum Ausdruck gebracht, O6 
eine einzige Forderung des Materials zu verkennen oder zu opfern. Und dieser 
Ausdruck ist durch die im Verhältnis zum Resultat einfachsten Mittel, in der 
primitivsten und naivsten Weise, durchaus wahr und ehrlich gewonnen; hier ist 
nichts gelogen, ja nichts überflüssig, und hier fehlt nichts, alles steht in voller, nur 
von inneren Gesetzen gebundener Freiheit und Durchsichtigkeit da. So macht 
denn die Stabkirche, die ich für mein Vaterland in der Hauptsache vindizieren zu 
dürfen glaube, den Eindruck inneren, organischen Lebens und konsequenter Ent- 
wicklung aller Details, die das echte Kunstwerk kennzeichnet — in der That die 
yenialste Uebertragung aus einem Material in ein anderes, die wir kennen. 
Ist aber denn die Stabkirche in der That ein Erzeugnis des norwegischen 
Volkes? Woher kam sie, und wie entwickelte sie sich? Man hat ihren Ursprung 
in russischen und westslavischen Kirchen gesucht. Mit nichten. Eine Reise, die 
ich vor einigen Jahren von Moskau nach London unternahm, um diese Frage zu 
untersuchen, hat mich bestimmt von der Unrichtigkeit dieser Theorie überzeugt. 
Ich darf behaupten, dass die von Byzanz aus bekehrten Völkerstämme alle ihre 
Holzkirchen in Blockverband, die von Rom aus bekehrten germanischen und keltischen 
dagegen in Fachwerk bauten: „die Kolchier sind im Blockverband, die Gallier aber 
im Fachwerk erfahren.“ Doch scheint die eigentliche Stabkonstruktion nie ausser 
Irland und Grossbritannien so wie den von hier aus bekehrten Volksstämmen vor- 
gekommen zu sein. Dagegen habe ich mit voller Bestimmtheit das Einzapfen und 
Einspunden der Stabkonstruktion in der einzigen erhaltenen angelsächsischen Holz- 
kirche zu Greensted in Essex erkannt, und die Konstruktion dieser Kirche darf 
ich wiederum mit dem „opus Scoticum“, „more Scotorum“, welche uns Beda u. a. 
beschreiben, identifizieren. Die norwegischen Stabkirchen sind in der That „more 
Scotorum‘“ gebaut und sind also — ganz wie es zu erwarten war — mit dem 
Christentum selbst von den britischen Inseln nach Ncrwegen gekommen. 
Damit ist aber die Frage, ob die vollständig entwickelte norwegische Stabkirche 
ein Erzeugnis des Landes selbst ist, nicht gelöst. Die Kirche von Greensted und 
die von irischen und angelsächsischen Schriftstellern erwähnten Kirchen sind ganz 
primitive, einfache Bauten, und wir wissen nicht einmal, ob England und Irland 
dreischiffige Stabkirchen gehabt haben; denn das auf einige Kirchen angewendete 
Wort „Basilika“ bedeutet bekanntlich in der kirchlichen Sprache des Mittelalters 
nur eine „Hauptkirche“. Selbst aber angenommen, dass diese Länder dreischiffige 
Stabkirchen gekannt haben, scheinen mir doch viele Anzeichen zu bekunden, dass 
der ganze ästhetische Charakter der norwegischen Stabkirchen den Verhältnissen des 
Landes selbst entwachsen ist, was ich jetzt in möglichster Kürze darzulegen 
versuchen werde. 
Wir wissen bestimmt, dass schon die heidnische Zeit der Wikinger die Stab- 
konstruktion kannte: sie kommt in ‘der Grabkammer des Wikingerschiffes von 
Gogstad faktisch 900 n. Chr. vor. Es ist noch fraglich, ob sie nicht auch für die 
Göttertempel angewandt wurde, die möglicherweise nichts als freie Nachahmungen 
christlicher Kirchen waren, welche die Wikinger in England und Irland gesehen 
hatten, Jedenfalls besassen sie —- den Beschreibungen der Chroniken zufolge — 
grosse Übereinstimmungen mit den christlichen Kirchenanlagen, und ich persönlich 
glaube daher ganz bestimmt, dass sie auch in Stabkonstruktion nach irischen
	        
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