Leber die erbliche Belastung eines Falles von multipler Neuritis.
Von
Dr. Ernst Kiefer, Nürnberg.
Die folgende Darbietung bezweckt lediglich, das erbliche Moment bei
seinem Falle von Polyneuritis zu illustrieren. Sie macht aber keinen Anspruch
darauf, die Kasuistik der multiplen Neuritis etwa durch die Beschreibung eines
aussergewöhnlichen Krankheitsbildes zu vermehren oder einen Beitrag zur
Ösung der Frage der peripheren oder centralen Entstehung der Affektion
zu bringen, oder auch die Frage der Aetiologie der Polyneuritis zu fördern.
Denn während der 24 Tage, die wir den Patienten zu beobachten
aelegenheit hatten, wurden lediglich Lähmungen und Paresen einzelner Muskeln
‘aus dem Streckapparat des Kniegelenks, aus der Peronealmuskulatur, aus
dem Bereich der Schultermuskeln und des weichen Gaumens), zum Theil mit
Zntartungsreaktion, ferner Parästhesien an den Beinen, ataktische Störungen
und eine sich auf die Ereignisse der letzten Zeit erstreckende Gedächtniss-
störung konstatirt. Ebenso wurde bezüglich der Vorgeschichte nichts Unge-
wöhnliches ermittelt: Der Patient litt seit 1—2 Jahren an Lungentuberkulose,
die einen so schweren Verlauf nahm, dass die ihn behandelnden und begut-
achtenden Aerzte sein baldiges Ableben erwarteten. Auf die nervösen
Störungen wurde, wie dies wohl bei den meisten derartigen Fällen geschieht,
nicht insbesondere geachtet, weil sie gegenüber den schweren Erscheinungen
der Lungentuberkulose als praktisch bedeutungslos füglich in den Hintergrund
‚reten mussten, Auch ein delirienartiger Zustand, der eine sogenannte poly-
neuritische Psychose gewesen sein dürfte (Desorientirtheit, Bewusstseinstrübung,
Fabulationen, Sinnestäuschungen, Gedächtnisslosigkeit, Angstaffekte und moto-
vische Unruhe) fand keine spezielle Beachtung angesichts des Umstandes, dass
der Patient zeitweise fieberte, dass Abusus alcohol. vorlag, und dass diese
psychische Störung nach kürzerer Zeit allmählich abblasste. Erst als uner-
warteter Weise die Lungentuberkulose eine Art Stillstand erfuhr — der
Kranke fieberte kaum mehr, hustete wenig, konnte das Bett verlassen und
hatte trotz weitgehender physikalisch nachweisbarer tuberkulöser Zerstörungen
des Lungengewebes (mit Kavernenbildung) keine sehr grossen Athembeschwer-
den mehr ---, da kamen die nervösen Störungen, besonders in Folge der
grossen Behinderung beim Gehen, ihm selbst und seiner Umgebung deutlicher
zum Bewusstsein, also zu einer Zeit, wo er sich nicht mehr in ständiger ärzt-
licher Behandlung befand. Dies gab ihm Veranlassung, im Januar 1901 Herrn
Professor v. Strümpell zu konsultiren und im Verfolg davon neurologische
Behandlung aufzusuchen. Da er sich indes bereits nach 3—4 Wochen der
Behandlung entzog, verloren wir ihn aus dem Auge und konnten nur nachträglich
neuerdings in Erfahrung bringen, dass sich sein Gang im Verlauf der nächsten
Monate weiter gebessert, der Stillstand der Lungentuberkulose weiter ange-
nalten haben soll, so dass er selbst (offenbar in falscher Beurtheilung seiner
edächtnissstörung und in Unkenntniss seines Lungenbefundes), davon