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Jahren bedurft, ehe ihr unbestimmtes Fühlen, ihr Suchen
und Ringen die geschilderte Gestalt annahm. Wir haben
es naturgemäß mit einer stufenweisen Entwicklung zu thun,
und diese Entwicklung uns vor Augen stellend, begreifen
wir auch das große Verdienst des Staupitz, das er in
Wirklichkeit um seine beiden Pfleglinge hat: er leitete sie
auf den Heiland der Seelen hin, er lehrte sie Christus be—
trachten und sein Werk. 36) Zugleich fanden die gelegent—
lichen, dem christlichen Sinne und der praktischen Erfahrung
entstammenden ÄAußerungen dieses sittlichfrommen Mannes
einen fruchtbaren Boden in den Herzen der beiden Freunde, *7)
und wenn Luther seinen Wenzel später „charissimum in
Christo fratrem, suumque in omnibus calamitatibus socium
— seinen in Christo teuersten Bruder und seinen Genossen
aller Marter“ nennt, so dürfen wir mit Recht an jene
schlimmsten Kämpfe denken, die erst den mit lauten Hammer—
schlägen gegen römische Seelenknechtung protestierenden
Augustinermönch vom 51. October 1517 schufen und die
Luther und Linck zwischen den stillen Klostermauern gemeinsam
durchfochten. Werden wir gleich ihre damalige Stellung
im wittenberger Konvente besprochen haben, so wird uns
diese Gemeinschaftlichkeit um so klarer werden. So ist denn
Staupitz in Wirklichkeit ihr geistlicher Vater geworden und
Cuther spricht aus dankerfülltem Herzen, wenn er in ihrer
beider und dem Namen aller übrigen vertrautesten Freunde
bekennt: „nos tui non decet esse immemores et ingratos,
bper quem primum coepit Evangelii lux de tenebris splen-
descere in cordibus nostris es ziemt sich nicht für uns,
deiner zu vergessen oder undankbar gegen dich zu sein, durch
den zuerst das Licht des Evangeliums aus der Dunkelheit
in unsern Herzen aufzuleuchten begann.“ 88)