—O 5. Der Festzug 65—
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habenen Sitze unter dem kunstvollen Thronhimmel blickt ernst
und sinnend die hehre Göttin, von ihrem Haupte, das ein Lor—
beerkranz schmückt, wallt ein langer Schleier den Rücken hinab,
in der rechten Hand hält sie einen Palmzweig, die linke ist
aufgestützt. So bietet sie in ihrer prächtigen, reichverzierten
und beinahe phantastischen Tracht, welche die Arme frei läßt,
einen höchst eigenartigen und glänzenden Aublick dar. Vor ihr
auf den Stufen des Thrones halten drei Edelknaben die Sinn—
bilder der Baukunst, der Malerei und der Bildhauerei: eine
jonische Säule, eine Palette und das Modell eines Kopfes.
Das Leitseil hält die Begeisterung. Künstler mit breunenden,
laubumwundenen Kerzen geben dem Wagen das Geleit.
Im Gefolge der Kunst zieht die Künstlerschaft mit ihren
Bannern an uns vorüber, eigenartig und glänzend in Erscheinung
und Tracht, ausgezeichnet durch feinen Geschmack und farben—
prächtige Ausstattung. Ihnen schließen sich an die Gewerbe
im festlichen Aufzug, vertreten durch Angehörige der Handwerke
der Drechsler, Brauer, Schlosser und Glaser mit ihren alten
Handwerksfahnen, Laden und sonstigen Attributen.
Ein Trupp Spielleute, dem ein Fähnlein Geharnischter
folgt, führt die letzte Gruppe*) ein, die ein buntes und malerisches
Durcheinander aufweist: Bürger und Bürgerinnen mit ihren
Kindern, Bauernvolk, groß und klein, fahrende Leute, Gestalten
aus den Dichtungen des Hans Sachs, wie Heinz Widerborst, der
Häderlein, der Waldbruder mit dem Esel. Selbst der schlimme
Placker Hans Schüttensam wird in Fesseln vorgeführt.
Der Eindruck, den der Festzug bei Einheimischen wie
Fremden hervorrief, war ein außerordentlicher. Nicht als ob
er sich durch eine ungewöhnliche Ausdehnung ausgezeichnet hätte,
in dieser Beziehung konnte er mit anderweitigen Veranstaltungen
dieser Art nicht wetteifern. Aber was ihm an Umfang ab—
ging, das ersetzte er reichlich durch die Einheitlichkeit und Poesie
des Gedankens, zu dem der gefeierte Dichter selbst Gevatter
*GS. 105.
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