Volltext: 1828-1833 (1. Band)

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Wunder und Ideale. 
schuld und Herzensgüte zeigte sich in allem seinen Thun und Reden, ob— 
gleich er von Recht und Unrecht, Gut und Bös nicht die allermindeste 
Vorstellung hatte. Vor Menschen hatte er durchaus keine Furcht oder nur 
Schüchternheit; alle waren ihm gut, und alle hielt er für schön. Als ich 
ihm unter anderm meinen Unwillen gegen den Bösewicht äußerte, der ihn 
so lange gefangen gehalten, wies er mich strafend zurecht: „der, bei 
dem er gewesen“, sei nicht bös, sondern sein Vater — so nannte er da— 
mals, als ich ihn besuchte, jeden Menschen, dessen Aufsicht er übergeben 
war — der ihm zu essen und trinken gegeben. Erst seit ungefähr zwei 
Monaten scheint es ihm klar geworden zu sein, daß er der Gegenstand 
einer Missethat gewesen, und äußert seitdem die größte Furcht bei dem 
bloßen Gedanken an die Möglichkeit, seinem Kerkermeister wieder in die 
Hände zu fallen. Von Leidenschaften oder üblen Neigungen hat sich außer 
der nunmehr erwachten Eitelkeit noch nichts in ihm geäußert. — Daß 
die Idee von Gott dem Menschen nicht angeboren ist, sondern nur von 
außen entweder durch die Betrachtung der Natur oder durch Unterricht in 
uns kommt, zeigt sich an unserm Kaspar ebenfalls ganz deutlich. Wie es 
in diesem Augenblick in dieser Hinsicht mit ihm steht, weiß ich zwar nicht; 
aber vor nicht langer Zeit ließ sich noch nichts wahrnehmen, woraus sich 
hätte schließen lassen, daß er von Gott, von einem ersten Urheber der Natur, 
irgend eine Vorstellung in sich habe. Die Dogmatik und die Geistlichkeit 
hat man glücklicherweise bis jetzt noch von ihm entfernt zu halten gewußt. 
Das Aussehen Kaspars ist gesund; indessen waren seine Nerven infolge 
der gewaltigen Eindrücke von der unendlichen Masse neuer Dinge, die auf 
einmal ununterbrochen durch alle Sinne auf ihn eindrangen, äußerst reizbar, 
sodaß man für sein Leben einigermaßen besorgt sein konnte. Jetzt ist er 
durch sorgsame Pflege und die zarte, anständige Behandlung seines Pflege— 
vaters und Erziehers, des Professor Daumer, dem er übergeben worden, 
außer Gefahr gestellt. Seit einiger Zeit zeigen sich an ihm die merkwür— 
digsten physiologischen Erscheinungen; er sieht, ohne Kakerlak zu sein, bei 
finsterer Nacht eben so gut, als bei Tag, unterscheidet auf weite Entfernung 
die Gegenstände durch den bloßen Geruch u. s. w. Seine Physiognomie 
hat nichts Ausgezeichnetes, und besonders wenn er spricht, gerät die ganze 
linke Hälfte seines Gesichts in unangenehme Zuckungen, gleichwohl übt seine 
Gesichtsbildung durch die in ihr ausgeprägte Unschuld und Herzensgüte 
einen unwiderstehlichen Zauber. Wer ihm naht, gewinnt ihn sogleich lieb. 
Wer übrigens glanben wollte, Kaspar müsse sich in seiner dermaligen Lage, 
welche äußerlich durchaus nichts zu wünschen übrig läßt, besonders glücklich
	        
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