Volltext: Kaspar Hauser

modernen Dekadenten, den er in seinem Ich-Roman darstellt, 
gut studiert hat und der die Fähigkeit besitzt, auch die kompli— 
ziertesten Seelenzustände vortrefflich zu analysieren, wobei man 
ihm auch die von Leidenschaft zitternde Sprache, deren er sich 
bedient, nicht etwa zum Vorwurfe machen darf, da sie durchaus 
dem Gegenstande gemäß ist. Wir sehen seinen Helden in perverser 
Liebe zu einem kaum dem Backsisch-Alter entwachsenen Mädchen, 
das er sich herangezogen und zurechtverdorben, sich ergehen, in 
einer Liebe, die charakteristischerweise zu schwächlich ist, um ihr 
Ziel zu erreichen; wir sehen ihn dann in verzweifelter Weise nach 
einem festen Halt im Leben ringen, nach einer Autorität lechzen, 
die bedingungslose Unterwerfung fordert, und finden es ganz 
konsequent, daß er dieselbe in der römisch-katholischen Kirche 
entdeckt, zu der er ohne eigentliche Frömmigkeit übertritt; ebenso 
richtig beobachtet ist es aber dann, daß er nach einiger Zeit 
dieser Autorität wieder satt wird und nun im Ekel vor aller 
Kirchlichkeit dem religiösen Leben gänzlich abstirbt, sich zwischen⸗ 
hinein an Lebemänner heranmacht, auch an Spiritisten, Anar⸗ 
chisten u. s. w. Denn die Unmöglichkeit, in einer eigenen ge— 
festigten Persönlichkeit zu beharren, ist ein Haupt-Merkmal des 
Dekadenten; überall tappt und tastet er nach äußerem Halt. 
Das Buch schließt damit, daß der „mit allen Hunden gehetzte 
Gentleman“ einer geheimen Gesellschaft beitritt, welche den Um— 
sturz aller bestehenden bürgerlichen Ordnung dadurch anstrebt⸗ 
daß ihre Mitglieder, ohne gegen die Staatsgesetze sich zu ver— 
gehen, durch „intellektuelle Agitation“ den Mitbürgern das staat⸗ 
liche und gesellschaftliche Leben möglichst zu verleiden suchen, 
indem sie ihnen zeigen, wie wurmstichig alle Institutionen — 
Religion, Kirche, Staatsgesetze, bürgerliche Moral, Überlieferung 
u. s. w. — seien. — Wer für das psychologische Problem des 
blasierten Gefühlsschwächlings, der selbst Gefühlsathlet zu sein 
glaubt, sich interessiert, der wird dasselbe nicht leicht irgendwo 
typischer und packender behandelt finden, als in dieser in ihrer 
Art meisterhaften Arbeit. 
Buchdruckerei Roitßzsch vorm. Otto Noack & Co.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.