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Neben den geschilderten Hauptblättern treten die anderen Holz-
schnitte des Marienlebens etwas zurück, Doch enthüllen auch sie
gar manchen fein psychologischen Zug des Künstlers. So stellt er
in der Tempelszene dem Joachim, dessen Opfer vom Priester zurück-
gewiesen wird, einen derben Tölpel mit einem kräftigen Sohne
gegenüber, um die Schmach Joachims noch empfindlicher zu machen.
Die fröhliche Begegnung Joachims und Annas unter der goldenen
Pforte dünkt einem Bettler eine günstige Gelegenheit, Almosen zu
heischen. Der Tempelgang Mariens, die Beschneidung Christi führt
uns treffliche Charaktertypen vor die Augen; auch hier endlich giebt
sich Dürers Behagen am reichen landschaftlichen Hintergrunde kund.
Das Marienleben ist das erste Meisterwerk Dürers, welches er auch
in späteren Jahren noch gern mit stolzem Bewusstsein verschenkte.
Hat es doch zuerst seinen Namen weit über die Grenzen seiner
Heimat bekannt und berühmt gemacht. Die Thätigkeit im Fache
des Kupferstiches und Holzschnittes nahm während aller dieser
Jahre nicht bloss seine Zeit, sondern auch seine künstlerische Kunst
vorwiegend in Anspruch. Was er als Maler leistete, steht an Zahl,
insbesondere an Bedeutung gegen die Holzschnitte und Kupferstiche
weit zurück. Über Dürers Erziehung zum Maler sind wir nicht
genau unterrichtet. Sicher ist nur, dass ihm die eigentümliche
Wirkung der Ölfarbentechnik, Schmelz, Weichheit, feine Abtönung
der Farben lange unerreichbar erschien, und dass er insbesondere
in jungen Jahren mit Vorliebe Leim- oder Wasserfarben, flüssig
auf Pergament oder Leinwand aufgetragen, gebrauchte. Er lässt
die genaue Vorzeichnung überall durchblicken, die scharf gezogenen
dunkeln Umrisse nicht unter der Farbe verschwinden, giebt häufig
nur durch Färbung in der Lebendigkeit und sinnlichen Wirkung
gesteigerte Zeichnungen. In Leimfarben auf Leinwand gemalt tritt
uns das Selbstporträt aus dem Jahre 1493 und das mehrere Jahre
später gemalte Bildnis des Kurfürsten Friedrich des Weisen (Ber-
liner Museum) entgegen, ferner der gleichfalls noch in den neunziger
Jahren geschaffene Dresdener Altar, das hervorragendste Werk
kirchlicher Natur, welches wir aus Dürers Jugendzeit besitzen. Nach
üblicher Sitte zerfällt der etwas über I m hohe, ursprünglich in der
Wittenberger Schlosskirche aufgestellte Altar in eine Mitteltafel
ınd zwei Flügel. Das Mittelbild zeigt uns innerhalb eines Stein-
rahmens auf der Brüstung das schlafende Christuskind. Ein winzig
kleiner Engel, ein wahrer Zwerg, steht auf der Brüstung und wehrt
mit einem Wedel die Fliegen ab, hinter der Brüstung erblickt man