Volltext: Albrecht Dürer

tung vielfach abgeschlossenen Erzählungen seinen Gedanken nur 
eine allgemeine Richtschnur boten. Er hat die Freiheit trefflich 
benutzt. Kein schriller Wechsel der Tonart, keine Sprünge in der 
Empfindungsweise werden in der Blätterfolge bemerkt. Die Passions- 
szenen, welche seine Vorgänger gewöhnlich dem Marienleben ein- 
geflochten haben, vermeidet er sorgfältig und deutet nur durch die 
Abschicdsszene Christi von seiner Mutter (B. 92), che er die letzte 
Reise nach Jerusalem antritt, die dunkle Seite ihres Lebens an. 
Und selbst hier erscheint sie trotz der Hoheit, welche Dürer der 
Gestalt Christi verlichen hatte, als die wahre Heldin der Handlung 
und hält ihre Mutterwürde und liebevolle Hingebung an den Sohn 
aufrecht. Welche Tonart im Marienleben vorherrscht, das sagen 
dem Auge die drei Hauptblätter der Folge: die Geburt Mariä 
ıB. 80), die Flucht nach Ägypten (B. 89) und die dauernde Rast 
daselbst (B. 90). 
Dürer war kein fröhlicher Mann. Er mag nur selten in seinem 
Leben laut gelacht haben, und in seinen Zeichnungen, in welchen 
er doch seine ganze Natur enthüllt, stossen wir kaum ein bis zwei- 
mal auf ungebunden lustige Gestalten. Dafür besass er ein feines 
Verständnis für ein stillgemütliches Dasein und gebot seine Phan- 
tasie über die fesselndsten Züge sinnigen Humors. Welch ein an- 
heimelndes Gemälde von einem kleinbürgerlichen, behaglichen Leben 
schuf er nicht in der Geburt Mariä! Das Ereignis hat die befreun- 
deten Nachbarn aus dem Alltagsleben aufgerüttelt. Die Gevatterinnen 
eilen teilnehmend und hilfreich herbei, um die Wöchnerin zu pflegen 
und die Familiensorgen ihr abzunehmen. Diese ruht ermattet in 
einem Himmelbett im Hintergrunde und wird durch Speise und 
Trank von zwei Wärterinnen gekräftigt, während die Wehmutter 
sich von den Anstrengungen des Berufes durch einen tiefen Schlaf 
am Rande des Bettes erholt. Den Vordergrund nehmen geschäftige 
Frauen ein. Sic haben (rechts) dem Neugeborenen ein Bad bereitet 
und bemühen sich (links), ein älteres Kind durch Spiel und Zuspruch 
ruhig zu erhalten. So viel Eifer und Arbeit macht die Kehle durstig. 
Es gilt auch das Familienfest würdig zu feiern. So sehen wir denn 
auch eine wackere Alte aus dem Weinkruge sich laben und in 
der andern Gruppe rechts eine Frau der Nachbarin den Becher 
reichen. In der Mitte zwischen den beiden Gruppen wandelt ein 
junges Mädchen, die Wiege unter einem Arm, einen Krug in der 
andern Hand, die anmutigste, formenreinste Gestalt, welche Dürer 
jemals geschaffen hat. In einem ganz frischen Drucke muss man
	        
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