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dieses reiche und grosse Wissen uns ohne Mühe verschaffen könnten.
Unser blödes Gemüt kann aber zu solcher Vollkommenheit in
Kunst, Wahrheit und Weisheit nicht kommen. Doch sind wir des-
halb nicht ausgeschlossen von aller Weisheit, wenn wir nur durch
Lernen unsere Vernunft schärfen und uns stetig im Erkennen üben
wollten x
In einfachen schlichten Worten drückt hier Dürer aus, was Pico
della Mirandula mit dem ganzen Pompe der lateinischen Sprache
als wahre Würde des Menschen verkündigt hatte; die Lehre von der
Entwickelung, dem Wachstum aus freiem Willen, von den Keimen
eines allartigen Lebens in der menschlichen Seele. In Dürers Be-
kenntnis entdecken wir nicht allein einen Anklang an den Ausspruch
des berühmten italienischen Humanisten, sondern auch den Wider-
hall seiner künstlerischen Thätigkeit. Der Preis mühelosen Er-
xennens, die Klage über unser blödes Gemüt, erinnern sie nicht
an den Gegensatz, welchen die beiden Stiche, Der Hieronymus im
Gehäus und die Melancholie verkörperten? So durchdrungen ist
Dürer von der Pflicht stetigen Fortschreitens im Wissen und
Können, dass er sich zornig gegen die Verächter desselben wendet,
Sage doch niemand, dass Wissen hoffärtig mache, denn dann wäre
{z0tt das hoffärtigste Wesen. Warne auch niemand vor dem
Wissen, weil es leicht missbraucht werden könne. Das Wissen
„leicht dem Schwert. Es kann vom Mörder benutzt werden, es
dient aber auch dem gerechten Richter.
Auch in solchen allgemeinen Erwägungen fühlt sich Dürer als
Künstler, Auf das engste erscheinen ihm die Kunstpflege, das
künstlerische Formideal mit seinen religiösen Anschauungen ver-
<nüpft. Gott, als das vollkommenste Wesen, konnte sich nur
vollkommene Menschen schaffen. Daher besitzen Adam und Eva
and die Madonna vollkommene Schönheit und wer sie malt oder
zeichnet, muss sic als Mustermenschen darstellen. Die Proportions-
'"chre wurzelt bei ihm in dem religiösen Glauben an die ursprüng-
iüiche Freiheit der menschlichen Natur. Mit Hilfe der Proportions-
.chre wird diese wenigstens in der Kunst wieder hergestellt. Dürer
hält an den mittelalterlichen Überlieferungen so weit fest, dass er
in Sinken der menschlichen Natur seit der Verjagung aus dem
Paradiese annimmt. Neu und für die Richtung seiner Gedanken
yedeutsam ist die Gleichstellung menschlicher Vollkommenheit mit
der formalen Schönheit. Der Bann, in welchen frühere Jahrhunderte
das sinnlich schöne Leben gelegt hatten, ist gebrochen, der gött-