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Und doch, der scharfsichtige Prophet! er hat durch
dieses äussere, abstossende Verhalten hindurch seinem
Volke tief ins Herz geblickt und dort die aufkeimende
Liebe, die emporspriessende Neigung zu dem Ewigen
und Göttlichen entdeckt. Das Volk, das aus dem Sklaven-
Jande Egypten zog — so musste der Prophet sich gesagt
haben — das konnte nicht anders als dem . goldenen
Kalbe huldigen und dem Sinnengenusse fröhnen, konnte
nicht anders als widerspenstig und unbotmässig, ungläubig
und gotteslästerlich sein. Jedes andere Volk auf solcher
Stufe hätte unter den Gefahren und Widerwärtigkeiten
der Wüste seinen Untergang finden müssen. Israel aber
hat trotz aller Fehler und Verirrungen schliesslich den
Weg zu Gott gefunden, Israel konnte trotz aller Schwächen,
trotz aller Rückfälle in das Heidentum zu einem Gottes-
volke erzogen werden, zu einer grossen Aufgabe, zu einem
arhabenen Beruf, zum Träger der Gotteslehre, zum Be-
gründer des Gottesreiches auf Erden. Gehörte nicht hierzu
eine jugendliche Liebe und Huld, wert, vom Propheten
noch nach einem Jahrtausend in schwärmerischen Worten
gepriesen und gefeiert zu werden? Und wenn es uns
auch nicht in den Sinn fallen kann, die Bildung und
Entwickelung unseres Gemeindewesens mit jenen welt-
geschichtlichen Vorgängen in altersgrauer Vorzeit in Gutem
wie in Bösem vergleichen zu wollen, so ist doch das echt
Menschliche in seinen Vorzügen wie in seinen Fehlern zu
allen Zeiten sich gleich geblieben.
Ja, meine Andächtigen! die Geschichte unserer
Gemeinde vor Erbauung unseres Gotteshauses weist Er-
scheinungen auf, die wir vom heutigen Gesichtspunkte
aus betrachtet, kaum mehr begreifen können. Schon der
Anfang einer Gemeindebildung vollzog sich unter den
grössten Schwierigkeiten. Man hätte doch erwarten