—O II. Die Festtage 0—
„die er alle um eines Hauptes Länge überragte. Freilich ge—
lang es ihm nicht immer, dem dürren Gezweige des Meister—
gesanges vollsaftige Blätter und Blüten der Dichtung zu ent—
locken und ist auch er bei manchem Gedicht in der Prosa
handwerksmäßiger Versschmiedekunst stecken geblieben. — Sicher—
lich entsprachen seinem natürlichen und gesunden Sinne nur
wenig die Künsteleien und Spielereien der Singer von der
Zunft; aber lag es nicht in der Natur der Sache, daß auch
er sich in dieses Fahrwasser begab, um jenen zu beweisen, daß
er ihnen auch in der Behandlung der äußeren Form, die sie
für das Höchste hielten, überlegen war? Er mußte der Zunft
seinen Tribut zollen, mußte gewissermaßen mit den Wölfen
heulen, wie hätte er sonst seinen Einfluß geltend machen und
sich zur Führerstelle emporschwingen können? So war er ein
richtiger Meistersinger, der vor den strengsten Merkern bestand.
Aber nicht nur den Forderungen und Ansprüchen jener Merker,
die sein Lied auf Korrektheit des Inhalts und der Sprache,
auf die rechte Zahl der Silben und das richtige Verhältnis
der Reime prüften, wußte er zu genügen, nein, einen höheren
Richter befriedigte er, er sang sich in die Herzen der Menschen
hinein, diese Herzenstöne sind die Grundmelodie seiner echten
Meisterlieder. Wo eine hohe, heilige Empfindung ihn durch—
glüht, und wo ein anziehender Stoff seine lebhafte Phantasie
befruchtet, da überwindet sein Genius selbst die sprödeste Form,
und die Erstarrung weicht dem Pulsschlage warmen Lebens.
Wie wenig ihn befriedigte, was er auf seiner Wanderschaft durch
Deutschland in der Schule der Meistersinger zu hören bekam,
zeigt das tiefempfundene Lied, das er nach seiner Rückkehr seinen
Nürnberger Genossen im Jahre 1516 sang und welches anhebt:
Ich pin gezogen fern und weit
Lang Zeit,
Allenthalb ich viel Singer fand
Der hort ich singen ane Zil vil
Mit Worten grob und nit subtil.
Sie hätten gar kleinen Verstand“