Volltext: Albrecht Dürer

lich lauernden Pharisäer, einen von den Italienern viel bewunderten 
Charakter, während die anderen Figuren im Halbdunkel sich verlieren. 
Stürmischer, unter lebendiger Teilnahme des Volkes geht der Vor- 
gang in der kleinen Passion vor sich, noch reicher statten die grosse 
und die grüne Passion die Szene aus. Unterhalb der Stufen des 
Richthauses, in dessen Eingang Christus ausgestellt wird, drängt 
sich lärmend ein Volkshaufe, alt und jung, Dicke und Magere, 
Fanatiker und Neugierige, und sprechen laut ihre Meinungen und 
Forderungen aus. Ähnliche tiefgreifende Unterschiede lehrt uns 
der Vergleich gleichnamiger Darstellungen in den einzelnen Folgen 
kennen. Bei der Kreuztragung liegt bald der Nachdruck auf der 
Begegnung der Frauen, welchen Christus mit unendlich sanftem 
Blick Trost zuruft, bald auf den Misshandlungen, unter welchen 
Christus zusammenbricht. Die Kreuzigung betont entweder das 
Scelenleiden Christi und den Schierz der unter dem Kreuze ver- 
sammelten Freunde, oder sic führt uns mit symbolischem Beiwerke 
geschmückt die Hinrichtungsszenen vor die Augen. 
Mit Recht haben die Italiener die schier unerschöpfliche Frucht- 
barkeit der Dürerschen Phantasie gepriesen und ihm als Erfinder 
die Palme gereicht. Uns aber steht noch höher als die Fruchtbar- 
keit das unverbrüchliche Festhalten an einem einheitlichen Grund- 
ton in den verschiedenen Folgen. Dem Bildner ging der Dichter 
zur Scite. Ehe er an die einzelnen Darstellungen schritt, erwägte 
cr im Geiste, welchen Eindruck und welche Empfindung das ganze 
Werk im Betrachter hervorrufen soll. Es kann der Sinn des letz- 
teren in ruhigem Gleichmasse durch die Erzählung der Ereignisse 
beengt oder seine Phantasie durch Vorführung leidenschaftlicher 
Szenen, mächtiger innerer und äusserer Kämpfe gepackt werden. 
ls kann weiter als Ziel die Erweckung tiefer Teilnahme an den 
Schicksalen des Helden vorschweben. In der Dichtkunst wird die 
natürliche Scheidung in drei Gattungen, die epische, dramatische 
und Iyrische Poesie längst anerkannt und geübt. Auch im Kreise 
der bildenden Kunst stossen wir bald auf wirksame Dramatiker, 
ergreifende Lyriker und fesselnde Erzähler, Was an Dürer neu 
ist, unsere Bewunderung erregt und ihn in die Reihe der grossen, 
die Welt umfassenden Dichter setzt, das ist die kühne That, einen 
und denselben Gegenstand sowohl episch wie dramatisch und 
lyrisch erfolgreich zu behandeln. Man braucht nur, wie richtig 
bemerkt wurde, die Titelblätter der drei Passionen zu betrachten, 
am den poetischen Standpunkt Dürers in jeder der drei Folgen
	        
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