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Sie sich nicht entziehen. Das werde ich Joseph
schreiben. Nun werde ich zwar nicht mehr kommen,
aber ich werde Ihrer herzlich gedenken und hoffe,
daß Sie mir einmal mehr werden als Freundin.“
Und Anne ging. Mit freundlicheren Augen
sah Karoline ihr nach. Sie bekannte sich ehrlich,
daß Fräulein Rottmann groß dachte, größer als
sie. Aber es war den Bevorzugten ja so leicht,
groß zu sein. Und zu den Bevorzugten gehörte in
ihren Augen Anne Rottmann. Zu den Bevorzugten,
zu denen es sie mit aller Kraft drängte, unter denen
sie aber nicht nur die Rolle, der Bescheidenen, Ge—
duldeten spielen wollte.
Seit Joseph Rottmann sie liebenswert ge—
funden, hatte sie mit der ganzen verhaltenen Leiden—
schaft ihres Sehnens gehofft. Aber nun war Joseph
weit, wer konnte wissen, ob er überhaupt noch an
Karoline Schmid dachte, trotz der Annäherungs—
versuche seiner Schwester.
Drei Tage nach Haßners Antrag wurde er
von Rottmann eingeladen, den Abend bei ihnen
im Garten zu verleben.
Trotz aller guten Vorsätze konnte Haßner seine
Blicke nicht meistern. Anne schlug schüchtern ihre
Augen vor diesen heißen Blicken nieder. Er aber
wünschte, daß sie nicht so zurückhaltend und scheu
wäre, daß sie doch noch, wie in der ersten Zeit
ihrer Bekanntschaft, ihn mit offener Liebe anblicken
möchte. Was lag ihm jetzt an Philosophie und
Wissenschaft — Liebe, Liebe forderte sein Herz.