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über jedes einzelne Volk gelingen müsse, was ihm über alle
vereinigt nimmer hätte gelingen können? Dass ein Staat, dem
ein Eroberer gegenübersteht, sich vergebens schmeichle, von
dessen Raubsucht verschont zu bleiben? Dass die einem solchen
Staate gegönnte Ruhe nur der Aufschub seines Unterganges,
jeder Friede nur Waffenstillstand, jeder Waffenstillstand nur
Vorbereitung zu neuer Unterjochung ist, und dass der nimmer
zu sättigenden Herrschsucht so lange nach neuen Opfern
lüstet, als noch Staaten übrig sind, welche sie besiegen, Völ-
ker, welche sie unter ihre Füsse treten kann? ... Wenn die
Welt durch lange Ruhe oder inneres Verderbnis in unwürdige
Schwäche versunken, wenn sie in Entartung und Unsitte, ın
Gleichgültigkeit gegen alles Erhebende und Grosse so tief her-
abgekommen .ist, dass sie sich durch sich selbst nicht mehr
aufzurichten vermag, dann erscheinen Eroberer, welche ver-
wüstend über die gefallene Menschheit hinschreiten, damit ent-
weder ein besseres Geschlecht aus den Trümmern des alten
hervorgehe, oder das alte durch Verzweiflung aus seiner Ver-
sunkenheit wieder zum Besseren sich erhebe. Denn „es ist
aine uralte Wahrheit, dass durch Vernunft allein das Menschen-
geschlecht nimmer zum Besseren gelangt. Der Weg durch
den Kopf in den Willen zur Tat ist ein langer Weg, der durch
einen Abgrund unterbrochen ist, über welchen nur das Herz
die Brücke baut. Jede Wahrheit, und wäre sie bis
zur Sonnenhelle von der Erfahrung beleuchtet,
bleibt so lange für das Leben tot, als sie nicht
durchdas Gefühlbeseelt, durch die Empfindung
zur wärmenden Flamme entzündet wird. Was 1ns-
besondere gesunkene Völker aufrichten, ent-
zweite Nationen vereinigen und für einen Zweck
zu grossen Opfern und grossen Taten ermannen
soll, kann nur irgend ein Gemeinschaftliches
sein, was nicht den Kopf, sondern die Brust er-
füllt, nicht kalt zum Verstande, sondern ein-
dringend zum Gemüte spricht“.1) Dieses gemein.
schaftliche Eine war in Europa die gemeinschaftliche
Not, das allen Völkern und Ständen gemeinsame ... Ge-
fühl der gemeinsamen Schande, der gemeinsamen Unter-
‘i) Ueber die Unterdrückung u. Wiederbf. (Kleine Schriften.) S. 22.