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Seelenleben des Dichters zu erfassen, ist für Gottsched der Augen-
blick des Stillstehens gekommen. Es geht ihm wie dem Manne,
der die Schönheit des gotischen Domes nur nach der äußeren Masse
und den zierlich aufstrebenden Fialen empfindet, dem aber
das frische Leben, das die Sonnenstrahlen durch die bunten Fenster
in das Innere hineinzaubern, verschlossen geblieben ist. Dieses innere
Leben bei Hans Sachs zu erfassen, dazu wären eigentlich die
phantasievoll gestimmten Schweizer der ganzen Richtung ihrer
Poetik nach von Haus aus berufen gewesen. Sie haben es nicht
vermocht. Warum? Ich glaube, der Hauptgrund ist in einer äußer-
lichen Voreingenommenheit zu suchen,
Gottscheds Kenntnis des Hans Sachs floß aus erster Quelle,
er besaß selbst Meisterlieder-Handschriften, darunter auch von Hans
Sachs geschriebene (oben S. 12).! Kaum war Gottsched in Leipzig
eingetroffen, so begann er das Ausfegen des deutschen Dichter-
heims, Die Zotenliteratur der poetischen Zettel kam zunächst in
ainer Satire an die Reihe (1724). Nach bekannten Mustern ist es
der „ehrliche“ Hans Sachs, der aus seiner Gruft heraus schwer Klage
führt.” Gottsched hat dann wiederholt seine Meinung über Hans
Sachs abgegeben in seinen theoretischen Lehrbüchern, seinen Zeit-
schriften und anderwärts, Diese Äußerungen bieten bei weitem keine
arschöpfende Charakterisierung Hans Sachsens, sie zeigen, daß
Gottsched sich nur bis zu einem gewissen Grade in die Dichtungs-
weise des Meistersängers einzuleben verstand, er blieb in seinem
Urteil doch auch ein Kind seiner Zeit, eine neue Bahn hat er nicht
gebrochen. Der Vergleich Hans Sachsens mit Homer, den Christian
Thomasius nicht lange vorher in akademischen Kreisen verkündet
hatte, wird von Gottsched nicht übernommen. „Die vernünftigen
Tadlerinnen“ (2. Theil, 1726, St. 17) sprechen nicht ohne etwas
bitteren Beigeschmack von Hans Sachs, den man für den deutschen
Homer gehalten habe. Im „Biedermann“ (1, S. 200, 12. April 1728)
sucht sich Gottsched gegen den Einwurf, daß seine „Blätter“
satirisch wären, zu schützen und greift dabei auf Hans Sachs zurück:
1 Von den Ausgaben des Hans Sachs besaß er die Kemptner (J. M.
Wagner, J. Chr. Gottscheds Bibliothek, im Neuen Anzeiger für Bibliographie
and Bibliothekwissenschaft, Hg. v. J. Petzholdt. Jg. 1872, S. 206).
? Critische Dichtkunst, [1. Aufl.], Leipzig, 1730, S. 467, 2. Aufl. (ebenda
1737), S. 552. Bezüglich der „Tadlerinnen‘ vgl. Waniek a. a. O0. 8. 41.