Objekt: Objekt

140 
Seelenleben des Dichters zu erfassen, ist für Gottsched der Augen- 
blick des Stillstehens gekommen. Es geht ihm wie dem Manne, 
der die Schönheit des gotischen Domes nur nach der äußeren Masse 
und den zierlich aufstrebenden Fialen empfindet, dem aber 
das frische Leben, das die Sonnenstrahlen durch die bunten Fenster 
in das Innere hineinzaubern, verschlossen geblieben ist. Dieses innere 
Leben bei Hans Sachs zu erfassen, dazu wären eigentlich die 
phantasievoll gestimmten Schweizer der ganzen Richtung ihrer 
Poetik nach von Haus aus berufen gewesen. Sie haben es nicht 
vermocht. Warum? Ich glaube, der Hauptgrund ist in einer äußer- 
lichen Voreingenommenheit zu suchen, 
Gottscheds Kenntnis des Hans Sachs floß aus erster Quelle, 
er besaß selbst Meisterlieder-Handschriften, darunter auch von Hans 
Sachs geschriebene (oben S. 12).! Kaum war Gottsched in Leipzig 
eingetroffen, so begann er das Ausfegen des deutschen Dichter- 
heims, Die Zotenliteratur der poetischen Zettel kam zunächst in 
ainer Satire an die Reihe (1724). Nach bekannten Mustern ist es 
der „ehrliche“ Hans Sachs, der aus seiner Gruft heraus schwer Klage 
führt.” Gottsched hat dann wiederholt seine Meinung über Hans 
Sachs abgegeben in seinen theoretischen Lehrbüchern, seinen Zeit- 
schriften und anderwärts, Diese Äußerungen bieten bei weitem keine 
arschöpfende Charakterisierung Hans Sachsens, sie zeigen, daß 
Gottsched sich nur bis zu einem gewissen Grade in die Dichtungs- 
weise des Meistersängers einzuleben verstand, er blieb in seinem 
Urteil doch auch ein Kind seiner Zeit, eine neue Bahn hat er nicht 
gebrochen. Der Vergleich Hans Sachsens mit Homer, den Christian 
Thomasius nicht lange vorher in akademischen Kreisen verkündet 
hatte, wird von Gottsched nicht übernommen. „Die vernünftigen 
Tadlerinnen“ (2. Theil, 1726, St. 17) sprechen nicht ohne etwas 
bitteren Beigeschmack von Hans Sachs, den man für den deutschen 
Homer gehalten habe. Im „Biedermann“ (1, S. 200, 12. April 1728) 
sucht sich Gottsched gegen den Einwurf, daß seine „Blätter“ 
satirisch wären, zu schützen und greift dabei auf Hans Sachs zurück: 
1 Von den Ausgaben des Hans Sachs besaß er die Kemptner (J. M. 
Wagner, J. Chr. Gottscheds Bibliothek, im Neuen Anzeiger für Bibliographie 
and Bibliothekwissenschaft, Hg. v. J. Petzholdt. Jg. 1872, S. 206). 
? Critische Dichtkunst, [1. Aufl.], Leipzig, 1730, S. 467, 2. Aufl. (ebenda 
1737), S. 552. Bezüglich der „Tadlerinnen‘ vgl. Waniek a. a. O0. 8. 41.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.