Volltext: Eine anonyme deutsche Gottesdienstordnung aus der Reformationszeit

handelte nacheinander: 1) den Gemeindegesang (le chant de la communauté); 2) den sogen. 
siturgischen Teil des Gottesdienstes (le service liturgique); 5) die Bedeutung der Vokal- und 
Instrumentalmusik, speziell der Orgel (le rôle de la musique vocale et instrumentale dans le 
culte, et particulièũrement le rôle de lorgue). 
1. Der Gemeindegesang. Der Vortrag, der den Zweck verfolgte, die Schaffung 
eines neuen lutherischen Gesangbuches einzuleiten, begann mit einer historischen Orientierung. 
Während das Mittelalter seit 364, dem Konzil von Laodicea, den Gesang der Laien aus dem 
Kultus ausschloß, und nur gegen Ende desselben die böhmischen Brüder einige Gemeindelieder 
besaßen, so hat Luther, Dichter und Musiker zugleich, den Gemeindegesang als integrierenden 
Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes begründet. Luther ist teils konservativ, teils 
Neuerer. Er übersetzt und bearbeitet einerseits alte lateinische und deutsche Lieder, anderer— 
seits schafft er neue Gesänge. Der Anstoß, der von ihm ausging, trug reiche Früchte. Die 
Kirche besitzt einen Schatz von ungefähr 60000 Liedern. Die reformierte Kirche war nach 
dieser Seite hin weniger schöpferisch. Ihr Biblizismus hinderte sie, andere Dichtungen als 
Psalmen in ihren Gottesdienst aufzunehmen. Zwingli war Gegner des Gemeindegesangs. 
Dagegen hat Calvin, während seines Straßburger Aufenthalts vom dortigen Kultus beeinflußt, 
den „Psautier huguenot? begründet, den seine Mitarbeiter Cl. Marot und Cheod. v. Beza vollen⸗ 
deten, und für den Goudimel die nötigen Melodieen schuf. Derselbe weist eine Menge Straß— 
burger Melodien auf (so z. B. der Psaume des batailles). Allmählich wurden jedoch dieselben 
ausgemerzt und durch die Kompositionen von K. Bourgeois ersetzt. Der heutige reformierte 
Psalter enthält noch 15 alte Gesänge. Erst Benedict Pictet hat im Beginn des 17. Jahr— 
hunderts einige andere Lieder hinzugefügt. Darauf erfolgte ein Umschwung, der während 
langer Zeit den Psalter in Vergessenheit geraten ließ. Die Hauptstücke eines neuen Gesang— 
buches müssen nach Ansicht des Referenten diese beiden reformatorischen Schöpfungen sein: 
a) Das deutsche Lied mit seinen unsterblichen rhythmischen Melodieen. b) Der reformierte Psalter. 
Was das 19. Jahrhundert an Liedern geschaffen hat, sei nur mit Vorsicht zu gebrauchen, 
weil dieselben zum größten Teil den kirchlichen Charakter vermissen ließen. In Betracht 
kämen: a) Die Lieder des Réveil (Malan, Bost). b) Die Chants chrétiens der Chapelle Taitbout. 
Hier entsprächen leider die Melodieen oft den Worten nicht. ch) Der Receuil de l'école de 
dimanche, dessen Melodieen jedoch völlig unkirchlich seien. Im allgemeinen eigneten sich diese 
Lieder viel mehr zu Gottesdiensten im Freien als zum Gemeindegottesdienst. Dieser müsse 
vor allem jene beiden ersten Kategorieen enthalten. Auch müsse dafür gesorgt werden, daß 
der neu zu schaffende Receuil de l'école de dimanche die hauptsächlichsten Choräle neben den 
spezifischen Kinderliedern enthalte. Es sei sehr zu bedauern, daß die reformierte Kirche die 
drei letzten Kategorieen auf Kosten der beiden ersten bevorzugt habe. Die Frage, ob ein— 
stimmiger oder mehrstimmiger Gesang, entscheidet Referent so, daß er, mit Rücksicht auf die 
geringe musikalische Bildung der meisten Gemeinden, ersterem den Vorzug giebt. Wo jedoch 
die Bildung der Gemeinden einen mehrstimmigen Gesang zulasse, sei dieser vorzuziehen. Im 
allgemeinen mache sich leider eine Abnahme der Gesangfähigkeit überall fühlbar. Dies rühre 
daher, daß in den Schulen der religiöse Gesang nicht mehr gepflegt werde und daß leider auch 
die Familien das Singen verlernt hätten. Ein reiches Arbeitsfeld öffne sich hier für den 
Pfarrer, der während seiner Studienzeit sich auch für diese Seite seiner späteren Thätigkeit 
mehr vorbereiten solle, als bis jetzt geschieht. 
2. Der sogen. liturgische Teil des Gottesdienstes. Die vorwiegende Bedeutung 
der Predigt, die allmählich in den Kirchen der Reformation Platz gegriffen, habe den bedauer— 
lichen Zustand hervorgernfen, daß unsere Kultusstätten zu Vortragsstätten geworden seien. 
Eine Reform sei hier dringend geboten. In der lutherischen Kirche sei seit 1804 eine Besserung 
eingetreten, als L. Meyer den liturgischen Teil des Gottesdienstes reicher gestaltete. In der 
reformierten Kirche habe dann Bersier mit besonderer Berücksichtigung der anglikanischen 
Uirche eine schöne Form des Gottesdienstes hergestellt. Allein seine Reform sei besonders 
wegen des fremden Vorbildes, das er benutzte, auf die „Eglise de VEtoile“ beschränkt geblieben. 
Line Reform in der Gegenwart habe an die Vergangenheit anzuknüpfen. Mit feinem Witze
	        
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