Volltext: Zu Nürnberg

konnte ich es nie unterlassen, geschwind einen Abstecher um die 
Ecke hinter die Stadtmauer zu machen, wo die kleine „KRettel“ 
umhertollte, wenn sie nicht, sehnsüchtigen Blickes über die Brücke 
hinwegsehend, unweit der Großmutter unter dem Thore stand. 
Oftmals lief das kleine, schmutzige Ding Gefahr, von Kinder— 
wägen, die damals noch an steifen Deichseln die Anhöhe vom 
Hallerthor aus mühsam hinaufgezogen wurden, angerempelt oder 
umgestoßen zu werden. Einmal gelang es meinem Vater eben 
noch zur rechten Zeit, das unachtsame Kind mit raschem Griffe 
fortzuziehen, sonst wäre der kleine bloße Fuß unbarmherzig von 
einem eisenbeschlagenen Rade zerquetscht worden. — „Jesses 
Gott! die Rettel!“ kreischte die Großmutter. „Vergelts Gott, 
Herr, daß Ihr das Mädel rechtzeitig erwischt habt, jetzt hätt's 
bloß noch ein' Fuß!“ 
Mit großem Wortschwalle und weiten Ausholungen erzählte 
sie nun meinem musterhaft geduldigen Vater, daß sie auf ihre 
alten Tage noch die Sorge für das Kind hätt' übernehmen müssen. 
Es sei halt das Einzige, was ihr von ihrer Tochter geblieben! 
Diese sei an einen Karusselbesitzer verheiratet gewesen und mit 
ihm in vielen fremden Ländern umhergezogen, bis er eines Tages 
verunglückt sei, und die junge Wittwe, halbtot vor Hunger und 
Ermattung, mit der Kleinen auf dem Arme vor der Mutter 
Thüre erschienen wär'! — Mit dem rechten Fipfel der großen 
buntgestreiften Kattunschürze wischte sie dabei einmal übers andere 
die dicken Wassertropfen der Rührung aus den alten Augen und 
den tiefen Furchen des runzligen Gesichtes. „Und bald darauf,“ 
schloß sie ihren Bericht, „haben sie's nausgetragen auf den 
Johannisfriedhof!“ — 
Die geschwätzige Alte klagte noch ihren Jammer über den 
Ungehorsam der kleinen Rettel, sie hätt' es dem Kind so streng 
verboten, mit den Kindern der Obstlerin außerhalb des Thores, 
die ihren Verkaufsstand am oberen Ende der Brücke hatte, zu 
spielen; aber gerade deshalb gäb's auf der Welt nur blos einen 
Menschen, mit dem die Rettel möcht' und das sei der „Hanni“
	            		
13 von „der“ da draußen. „Sehn S',“ bekräftigte sie ihre Aus— sage, „da hats halt wieder nach dem einfältigen Hanni aus— gschaut und hätt' sich dabei überfahren lassen!“ Da ich somit wußte, daß meine wohlbeleibte Freundin die Rivalin jenseits der Brücke nicht leiden konnte, begriff ich instinktiv, daß es sich hier um Brotneid handelte und stellte mich als Bundesgenosse an ihre Seite. Was ich mit meinen Kinderaugen nur immer an verächtlichen Blicken fertig bringen konnte, schleuderte ich gewissenhaft auf den einladend ausgebreiteten Kram unserer Feindin. „Nie,“ gelobte ich mir hoch und heilig, „sollte sie einen Pfennig von mir einnehmen!“ Die Rettel und der Hanni! — Die beiden beschäftigten meine kindliche Phantasie ungemein. Warum war sie dem bar— füßigen, blassen „Gassenjungen“ mit dem struppigen blonden Hhaar so gut? Warum streckte sie mir, der ich blankgewichste Stiefel trug, wie die Leute sagten, ein schöner, rotbackiger Bub war und alles bei ihrer Großmutter kaufte, immer die Zunge heraus, sobald ich mich ihr in der freundlichsten Art näherte ? Ja, warum? Damals war es mir unbegreiflich, jetzt weiß ich warum. „Was ein Häkchen werden will, muß sich bei Zeiten krünmmen!“ In dem Mädchen war Rasse und Charakter, sie kannte und wollte nur ihresgleichen. Daß die Rettel durch ihre Abkunft als Tochter eines Karusselbesitzers in meiner Achtung riesig gestiegen, war gewiß! Einen Karusselbesitzer zum Vater haben, schwebte mir als höchstes Glück vor. Ich achtete und liebte meinen guten Vater sehr; aber zu einem „Karusseldreher“ hatte er es zu meinem Bedauern leider nicht gebracht! ... Endlich gelang es meinem Scharfsinne, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das meine beiden Helden so eng ver— band. Als ich wieder einmal vergeblich unter dem „Hallerthürlein“ nach der Rettel ausschaute, machte ich flugs eine kleine Schwenkung nach rechts hinter die Stadtmauer und kam gerade recht, um Zeuge eines unvermuteten Anblickes zu werden. Ganz oben auf den morschen Stufen einer alten, zum Kranze der Stadtmauer
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