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fassten, was gewiss auch äusserlich in der künstlerischen Dar-
stellung zum Ausdruck gebracht war.
In der Bibliothek eines italienischen weltlichen oder geistlichen
Fürsten der Renaissance wird die Medizin gern entbehrt worden
sein und an ihrer Stelle die vierte Wand der idealeren Kunst der
Poesie eingeräumt worden sein. Daher finden wir in der Biblio-
thek des Herzogs von Urbino, für welche Melozzo da
Forli seine herrlichen Verkörperungen der sieben freien Künste
schuf, als die vier Hauptfächer: Theologie, Philosophie, Jurispru-
denz und Poesie, Genau so war die Einteilung in der Bibliothek
des Papstes Julius II, der „Camera della Segnatura“,
welche Raffael im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts mit den welt-
berühmten Verkörperungen dieser vier Wissenszweige schmückte:
auf der einen Seite die Theologie mit ihren Vertretern, die sog. Dis-
puta, ihr gegenüber die Philosophie, dargestellt durch: die Vertreter
der sieben freien Künste, die sog. „Schule von Athen“, an der
dritten Wand die Poesie (Apoll mit den 9 Musen und ihren Vertretern,
der sog. Parnass) an der vierten Seite die Jurisprudenz (Oeffnung der
Rechtsbücher). Wieviel.ist in diesen Bilderkreis hineingeheimnisst
worden und wie einfach erklärt sich alles, wenn man ein wenig
die geschichtliche Entwicklung dieses Thema’s überschaut. Mit
eisernem Besen haben‘ Wichhoff! und Schlosser ? den ganzen
spitzfindigen und humanistischen Deutungskram von ‚diesen vor
Gelehrsamkeit schier ungeniessbar gewordenen Schöpfungen hinweg-
gefegt, haben nachgewiesen, dass die uralt scholastische Einteilungs-
methode der Wissenschaften mehr Lebenskraft besessen hat, auch
für die Blütezeit der Renaissance, als die Eintagsphantasien der
Humanisten, und dass, — was für die unbefangene Würdigung auch
der Dürerstiche recht wertvoll ist —, Raffaels geistiges Eigentum
an diesen herrlichen Schöpfungen lediglich besteht in der Form,
in der künstlerischen Gestaltung der uralt ehrwürdigen, unzählige
Male schon in der vorhergehenden Kunst verkörperten Gedanken
der mittelalterlichen Scholastik.
Dürers Gegenbilder der göttlichen und menschlichen Weisheit,
1 Jahrb. der k. pr. Kunstsammlungen 1893,
2 Jahrb, d. allerh, Kaiserh, XVII