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Was vermögen sie uns noch weiter von selbst zu sagen?
Dass es sich bei beiden um wissenschaftliche Thätigkeit handelt.
Die Frauengestalt hält einen Zirkel in der Hand, ein Buch liegt
auf ihrem Schooss, am Boden steht neben vielen anderen Geräten
ein Schreibzeug, der Knabe neben ihr ist mit Schreiben beschäftigt.
Der heilige und wegen seiner Gelehrsamkeit berühmte Kirchen-
vater ist ebenfalls mit Schreiben beschäftigt.
Wir können weiter folgern, dass die von der Frau betriebene
wissenschaftliche Thätigkeit trotz ihrer Vielseitigkeit und mannigfal-
tigen Hilfsmittel nicht zu befriedigen scheint. Denn in dumpfem Brü-
ten sitzt sie da, das tief beschattete Haupt schwer aufgestützt, die
Augen mit unverkennbar schwermütigem Ausdruck in’s Leere
gerichtet, Würden wir nicht durch einen Wust gelehrter Defini-
tionen irre gemacht sein, so würden wir im Hinblick auf die
Beischrift .„Melencolia“ keinen Augenblick zögern, diese Frauen-
gestalt als die leibhaftige Melancholie = Schwermut zu erklären,
wozu die unheimliche unsichere Beleuchtung der ganzen Scene
vortrefflich passt.
Das Forschen des gelehrten Heiligen andererseits. muss ent-
schieden glücklich und zufrieden machen und Sonnenschein in
Herz und Haus bringen, denn alles um ihn atmet Behagen und
Frieden und sonnige Wärme. Eifrig sitzt der Alte, von seinem
Heiligenschein beglänzt, über seine Arbeit gebeugt. Hund und
Löwe liegen behaglich schlummernd, es ist als schwebte ein
Friedensengel über dem ganzen Raume.
Welcher Art die wissenschaftliche Thätigkeit des gelehrten
Kirchenvaters ist, braucht man nicht lange zu fragen. «Das Kru-
zifix auf dem ‚Tische, der Weihwasserkessel in der Wandnische
zwischen den Fenstern, das „Memento mori“, der Totenschädel,
auf dem Fensterstock, der: Rosenkranz an der Wand sagen
uns zur Genüge, dass der heilige Bewohner sich nur mit der
Erforschung göttlicher Weisheit beschäftigen kann. Gewiss ar-
beitet er an seiner Bibelübersetzung, der Vulgata, dem Werke,
das ihn vor allem bekannt und berühmt gemacht und ihm den
Heiligenschein eingetragen hat.
Welches Wissen durch ‘die Beigaben der schwermütigen
Frauengestalt angedeutet werden soll ist schon schwerer zu er-
raten. Da aber alle Hindeutungen auf religiöses und theologisches