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‚eranlassen, genau in Erwägung zu ziehen, ob die geschilderten Erscheinungen
nicht vielleicht auf spezifisch luetische Gewebsveränderungen, d. h. auf eine
;yphilitische spinale Meningomyelitis zurückzuführen seien,
Denn ganz abgesehen von der Möglichkeit des Vorkommens einer
Combination von Tabes mit echt syphilitischen Affectionen des Rückenmarks
und seiner Häute, kann die spinale syphilitische Meningomyelitis vollständig
das Bild eines Tabes vertäuschen, so dass man in solchen Fällen von einer
Pseudotabes luetica zu sprechen berechtigt ist. Die luetische Gefässerkrank-
ung oder eine gummöse Infiltration kann besonders die Hinterstränge er-
greifen, oder die meningealen Veränderungen können sich vorwiegend in den
hinteren Wurzeln ausbilden. Ich möchte hier besonders auf die höchst in-
structive Beobachtung Siemerling’s %) hinweisen.
Diese Abgrenzung der sogenannten Pseudotabes luetica ist ungeheuer
wichtig im Interesse einer eventuell einzuschlagenden antiluetischen Therapie,
weil diese gerade in den Anfangsstadien dieser Erkrankung, welche ja hier
noch vorwiegend aus Bildungen von frischem Granulationsgewebe besteht, oft
von recht günstigem Erfolge begleitet ist. Es haben deshalb schon eine
Reihe von Autoren ihr Bestreben dahin gerichtet, differentialdiagnotische Merk-
male zu finden, welche uns in den Stand setzen, die syphilitischen Rücken-
narksaffectionen von der richtigen Tabes zu unterscheiden. Ich möchte hier
in erster Linie auf die eingehenden Ausführungen von Kalischer®'} ver-
weisen. Was nun meine 2 Fälle anbelangt, bei welchen ich eine Tabes an-
nehmen zu müssen glaube, so würden etwa folgende Punkte gegen das Vor-
handensein einer spinalen Meningomyelitis sprechen. Letztere Erkrankung
pflegt im Allgemeinen entsprechend auch ihrem Verhalten bei Erwachsenen
meist schon in sehr frühen Jahren, oft schon ı-—2 Jahren nach der Geburt
oder bei Erwachsenen bald nach der Infection in Erscheinung zu treten; während
die Symptome der Tabes sich meist später erst entwickeln, Im Gegensatz
zu dem langsamen und stetig progressiven Verlaufe der Tabes zeigt die
spinale Lues eine rasche, schubweise Entwicklung; für die weiterhin auch die
vielen Schwankungen im Krankheitsbilde charakteristisch sind. Das wesent-
lichste Unterscheidungsmerkmal zwischen Lues spinalis und Tabes bildet das
Vorhandensein von cerebralen Symptomen, welche bei ersterer Erkrankung
nur sehr selten auf die Dauer vermisst werden, sei es nun dass dieselben in Form
von Gehirnnervenlähmungen, oder in psychischen Anomalien, Kopfschmerzen,
Erbrechen, Schwindelanfällen und epileptischen Insulten zu Tage treten.
In der Mehrzahl aller Fälle führt die Syphilis des Rückenmarks zu
spastischen Paresen mit gesteigerten Sehnenreflexen. Ein doppelseitiges, an-
dauerndes Fehlen derselben wird weit seltener beobachtet. Diese Fälle bieten
ft die grösste Aehnlichkeit mit tabischen Erkrankungen, lassen sich aber doch
von denselben in der Regel durch gewisse Züge unterscheiden. Während bei
letzterer Erkrankung die einzelnen Erscheinungen meist beiderseitig ziemlich
gleich entwickelt sind, treffen wir bei Lues spinalis sehr häufig eine einseitige
{_ocalisation der Störungen.