Herrmann, Die lateinische ‘Marina’. 27
seiner langen Ansprache die Redensarten an, die die Durch-
schnittsfrauen bei Keuschheitsmahnungen der Männer im
Munde zu führen pflegen, um Marina zu bitten, solche
Antwort zu unterlassen. Goethe dagegen legt diese Redens-
arten wirklich der Gattin in den Mund, als der Kaufmann
kaum geäussert hat, dass er noch etwas Peinliches auf dem
Herzen habe, Vor allem aber: dass Goethe seine Heldin
nicht so willenlos zeichnen will wie der Dichter des Origi-
nals, zeigt sich darin, dass bei ihm die Schöne vor der Ab-
reise des Gatten nur noch einmal Treue gelobt, das von
ihm geforderte Versprechen dagegen nicht leistet.
Und auch nach der Abfahrt des Kaufmanns hat Goethe
frei erfindend der jungen Frau Worte in den Mund gelegt
(Hempel 16, 72, Z. 25 ff.), welche deutlich zeigen, dass diese
Marina allen Vorgängen viel kühler, verstandesmässiger
gegenübersteht, dass sie entschieden auch moralischer Er-
wägungen fähig ist und ihnen eigentlich folgen müsste.
Auf diese Frau kann also das charakterfeste Verhalten des
weisen Jünglings auch einen moralischen Eindruck
machen, in ihrem Munde klingen uns die oben angeführten
Worte verständlich. Ohne Frage hat die Novelle durch
diese leichte Änderung Goethes das Recht auf den Titel
einer moralischen Erzählung gewonnen; ich wage nicht zu
entscheiden, ob sie nicht dafür einiges von ihrem ursprüng-
lichen Reiz verloren hat.*3)
Berlin. Max Herrmann.
43) Ich weise hier noch auf zwei Erzählungen hin, in denen die
Heilung einer Ehefrau von unkeuschen Begierden ebenfalls auf phy-
sischem Wege vor sich geht: die vierte Meistergeschichte der ‘Sieben
weisen Meister’ (vgl. z. B. Keller, Altdeutsche Gedichte S. 104 ff., bes,
118f.), wo die Heilung durch Blutabzapfung erfolgt, und Poggios
Facetie De muliere phrenetica (Opp. Basıl. 1538 S. 428 f.), wo ein un-
freiwilliges Bad im Arno die erwünschte Wirkung thut,
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