noch eher aufgaben, als wir an uns selbst kennen
lernten, was „Nerven“ heißt.
Und sie verdiente Rücksicht; denn sie umfing
alle Menschen und ihre Angehörigen besonders mit
aufrichtiger, tätiger Liebe. Geben und schenken war
der an sich selbst überaus sparsamen Frau dringendes
Bedürfnis. Und da sie ihre Gäste einfach bewirtete,
konnte sie sie um so öfter um sich sehen. Es
kommt auch nur auf die Form des Gebens an.
So ist gewiß eine Tasse Tee und ein Weck weder ein
üppiges noch ein seltenes Vergnügen, aber es schmeckte
doch anders als zuhause. Denn die Wecke wurden
nicht in der alltäglichen Form vorgesetzt; sie waren
im rechten Winkel zur gewöhnlichen Weckkerbe durch—
schnitten. Ich habs sonst nie wieder so gefunden,
aber sie schmeckten darum auch anders.
Erreichte so die Gute auf dem Wege des Un—
gewöhnlichen mit dem Gewöhnlichsten den besten
Erfolg, so glückte es ihr weniger, wenn sie das
Gewöhnliche an die Stelle des Ungewöhnlichen setzen
wollte. Schaum beim Bier ist gewöhnlich. Wenn
sie aber in der Glaskanne Bier für ihre Lieben
holen ließ und ihr dienstbarer Geist bei diesem Ge—
schäfte auch seine eigenen Angelegenheiten noch ein—
gehend besprechen mußte, dann geschah mit dem Bier
das Ungewöhnliche: es kam ohne Schaum. Was
würden ihre Söhne und Enkel zu diesem Bier sagen!
Also „hurtig g'schwind“ aus der Glaskanne ins
Glas, aus dem Glas in die Kanne und so weiter —
und das Gewöhnliche, der Schaum war da; aber
das Bier schmeckte dann auch gewöhnlich. Doch „dem
edleren Gemüte verstummt die Gabe bei des Gebers
Güte.“
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