386 Chronologische Übersicht und Kaspar-Hauser-Litteratur.
tommissär erklärte sie sofort als Betrügerin (Merker). Allein sein Bericht
vwurde in bestaubten Aktenbündeln begraben (Polizeirottmeister Wüst). Sie
spielte ein Mädchen, dessen Körper die jungfräuliche Reife hat, dessen
geistige Entwicklung auf der kindlichen Stufe geblieben ist (Hausers Unbe—
kanntschaft mit dem Geschlechtsleben). Gerne unterhielt sie sich mit kleinen
Kindern, mit denen sie auf gleicher Stufe geistiger Entwickelung zu stehen
schien (Hiltels Kinder von 3 und 11 Jahren). Oft sehnte sie sich zu
hrer Wärterin in die Waldwohnung zurück (Hausers Sehnsucht nach seinem
Kerker und Kerkermeister). Der Anblick des Mondes und der Sterne er—
regte ihr Erstaunen; sie konnte ohne Licht in der Nacht Strickarbeiten ver—
richten; die ungewohnten Eindrücke der Außenwelt sowie lautes Sprechen
derursachten ihr Kopfweh, und die Rückerinnerung an ihre Vergangenheit
eine traurige Stimmung; auch nervöse Zuckungen und Augenschwäche wurden
—
lallen begann, sprach sie meist im Infinitiv; die Geschichte ihrer Vergangen—
heit gab sie in vielen einzelnen Bruchstücken, und aus allen diesen Teilen
wurde erst nach Monaten ihre Geschichte mosaikartig zusammengesetzt (a1IIes
genau wie bei Hauser). Bei einem großen Leichenbegängnisse wun—
derte sie sich, daß es so viele Menschen gebe (Hauser erstaunte „nicht
wenig“, als er vor dem v. Wessenigschen Hause so viele Menschen sah).
Im Religionsunterricht zeigte sie oft durch gewisse Zweifelsfragen einen
skeptischen, rationalistischen Sinn, sie wurde (ebenso wie bei Hauser) oft
auf Unwahrheiten und heuchlerischem Benehmen betroffen und bewies einen
besonderen Scharfblick für die Schwächen ihrer Umgebung. Ein edler,
wohlhabender Mann in Böhmen erbot sich im Juni 1858 für des Mäd—
chens Schicksal zu sorgen, sie zu sich zu nehmen und ihr eine Rente aus—
zusetzen, und nur äußere Umstände verzögerten die Verwirklichung des Planes
Stanhope). Den nächsten Anlaß zu ihrer Flucht am 26. Juli 1858
zab eine freche Lüge, der sie sich schuldig machte, und die ihren würdigen
Lehrer zu einem Ausbruch der äußersten sittlichen Entrüstung fortriß (die
heftige Scene bei Meyer am 9. Dec. 1833). Herr v. Tucher ergoß 1872
seine leeren Kasparphrasen, von Kunigunde sagte er nur: „abgesehen von
dem Mangel jeglichen Beweises der Wahrheit der ganzen Erzählung, so
ergibt sich aus der Vergleichung mit der vorstehenden (von Tucher zusam—
menphantasierten) Schilderung von selbst der gänzliche Mangel der Identität
bdeider Zustände.“ Der Herr Oberappellationsgerichtsrat a. D. hätte sich
aus allen großen Zeitungen der Jahre 1853 und 1858 (ich machte mit
den Nassauer Blättern der Königlichen Bibliothek in Wiesbaden sofort die