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kannte und von dem ihm vorliegenden, im Jahrbuch auch bei-
gefügten Holzschnitt einen falschen Eindruck bekam. Meinem
Ermessen nach widerspricht der in diesem Johannes offenbarte
Kunstcharakter ganz und gar der Auffassung Veit Stoss’! Diese
zemischt wehmütigen, fast grüblerischen Züge in dem von lockiger
Haarfülle umgebenen jugendlichen Kopfe passen weit eher auf
Riemenschneider, dessen Stärke im Gegensatz zum unruhigen
Temperament und zur dramatischen Leidenschaft des Nürn-
verger Schnitzers gerade in dem Ausdruck poetischer Träumerei
und feinfühligen Empfindens liegt. Allein nur aus der Stimmung
eines Werkes heraus zu urteilen und Schlüsse zu ziehen, halte
ch nicht für angängig; technische Eigentümlichkeiten müssen
deutlich auf die Spur führen. Auffällig ist der schmale Hals
mit dem stark herausgearbeiteten Kehlkopf. Nie sind mir diese
Merkmale bei Stossfiguren aufgestossen; vielmehr ist der Kehl-
kopt genau so stark bei dem am Südportal der Marienkapelle
zu Würzburg stehenden Adam von Riemenschneider heraus-
gearbeitet. Auch die angewachsenen Ohrläppchen®) und die
aufgerollten Locken finden sich bei diesem Meister wieder. Die
dünnen abwechslungsreich gestellten Finger der erhobenen
Rechten, deren äusserster etwas gekrümmt ist und einen Winkel
zum Ringfinger bildet,”®) und jenes etwas nach oben gebogene
äusserste . Fingerglied treten ähnlich bei den vier sitzenden
Evangelisten im Berliner Museum auf, die dort noch unter dem
Namen des Creglinger Meisters gehen, der jüngeren Forschung
zufolge aber treffliche Werke Riemenschneiders sind. Den auf-
gehobenen oder gedrehten Zipfel der steifen Gewandung haben
auch die Madonna an der Neumünster Kirche zu Würzburg, jenes
früher in Schloss Mainberg befindliche Relief mit Christus und
Magdalena und der in der Dorfkirche zu Biebelried befindliche
Christus, dessen Fussstellung ebenfalls der des Johannes ähnelt,
indem der eine Fuss fast einen rechten Winkel zum andern
bildet. Als nicht unwesentliches Kennzeichen kehrt aber bei
der jugendlichen Tohannesfigur am Münnerstädter Hauptaltar
518) Beim Johannes in London, einer Schülerarbeit.
519) Vgl. die Apostel im Blutaltar, Maria im Creglinger Altar. und das
Relief mit Christus und Magdalena (früher in Mainberg).