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betrübten Mutter und den heiligen Frauen. Ihm folgt die Krone des
ganzen Werkes, der Tod der heiligen Jungfrau, der irdische Abschluß des
gottgesegneten Daseins. Nie ist die Weihe einer Sterbestunde heiliger,
höher und ergreifender dargestellt worden, als in diesem Blatte. Alle die
Erinnerungen, die tiefen Seeleneindrücke von den Sterbebetten der eigenen
Eltern, die so rührend in Dürer's Tagebuch verzeichnet sind; hier hat er
sie zusammengefaßt zu einem Gesammteindrucke von einer Größe und
Erhabenheit, wie nie ein Anderer vor oder nach ihm. Nichts blieb übrig
noch, als der himmlische Triumph der göttlichen Dulderin, die in den
höchsten Regionen des seligen Himmelreichs die Krone des ewigen Lebens
empfängt, während die mächtigen Apostelgestalten das offene, leere Grab
anbetend und staunend umgeben.
Dürer hat in diesem wunderbar reichen Gedichte eine solche Fülle
wahrhaft lebendiger Charaktere erschaffen, daß viele, selbst der besten
Künstler aller Zeiten in der Reihe ihrer ggsammten Schöpfungen zusammen
nicht halb so viel Gestalten so eigenartigen Gepräges, so originaler Neu—
heit aufzuweisen haben. Denn gerade in dieser freien Schöpferkraft, un—
abhängig von Vorgängern und Mitlebenden, steht Dürer so einzig groß
da, wie kein Anderer! Wenn man selbst in Raphael lange noch den
Perugin erkennt und selbst in den Werken seiner reifsten Zeit oft genug
den bestimmten Anlehnungspunkt entdeckt, wie oft schon nachgewiesen
wurde, so wird man in Dürer's Werken fast vergebens nach den Einflüssen
Wohlgemuth's suchen und kaum irgend eine vorübergehende Spur ent—
decken von Nachbildung anderer Meister und ihrer Werke.
Wenn der jüngere Holbein ihn ohne Zweifel in malerischer Durch—
bildung und Vollendung übertrifft, wie arm erscheint er doch, trotz seiner
reichen Begabung, in Bezug auf poetische Erfindung in Zeichnungen und
Holzschnitten gegen die Fülle seines großen Vorgängers. Aber auch
Lionardo, Raphael und Michelangelo haben, trotz der umfassendsten Werke
in großem Maßstabe, doch sicherlich keine größere Zahl von Gestalten er—
schaffen, als Dürer, der freilich die meisten nur in seinen Zeichnungen,
Holzschnitten und Kupferstichen zur Erscheinung bringen konnte, da ihm
die großartige Gelegenheit zu Schöpfungen in Wandbildern fehlte, die
seinen italienischen Zeitgenossen so reichlich zufiel. Wollte man in Bezug
auf diesen Reichthum der Erfindungsgabe einen Vergleich versuchen, so
dürfte man nur den einen Rembrandt, auch einen germanischen