Tas Leben im Leichentuch.
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lich das Recht, selbst seinen wie zum Spiel entworfenen Kombi—
nationen oft mehr Wahrheit einzuräumen und daraus abzuleiten, als
dem nackten und ungewissen Faktum, oder dem bloßen nüchternen
Verstande, der ängstlich über Konsequenzen brütet, zugetraut werden
darf. Und in solchem Sinne geistigen Schauens () ist diese Wahr—
heit zu nehmen, die in dem Büchlein, die in jeder Hinsicht die
achtungswürdigste Hand dabei beteiligt zeigt, enthalten sein dürfte.
Wie jede Wundererscheinung (), die hergebrachtem Lebensverlauf
fremdartig entgegentritt, an dem sogenannten gesunden Menschenver—
stande (man fühlt sich schon hegelisch angesäuselt!) einen natürlichen
Feind besitzt, der sie jedesmal auf ein phantomenhaftes Nichts zurück—
zuführen trachtet, wie aber dennoch der Verstand, nachdem er das
Märchen vernichtet hat, um daraus die ihm gemäße Wirklichkeit her—
zustellen, nichtsdestoweniger sich stets dabei in Verlegenheit gesetzt
sehen wird, da sich ihm selbst aus dem zertrümmerten Wunder immer
wieder neue unter den Händen ansetzen, deren Bezwingen er am Ende
ohnmächtig aufgeben muß; so ist es auch ganz in ähnlicher Weise mit
Kaspar Hausers Geschichte und den wiederholt angestellten Versuchen
zu einer mit der gewöhnlichen Wirklichkeit harmonierenden Lösung
derselben ergangen. Herr Polizeirat Merker hatte — durch Konse—
quenzen eines polizeigerechten (s) Verstandes — die Widersprüche, die
in des Findlings Aussagen erscheinen, einleuchtend zu machen gesucht,
jedoch damals, wenigstens in der öffentlichen Meinung, nur geringen
oder keinen Anklang gefunden, da man vielmehr bald darauf durch
die vortreffliche Schrift Feuerbachs“ u. s. w. „In diesen Briefen (also)
ist die psychologische (es handelt sich aber vor allem um die physische!)
Möglichkeit des Ereignisses dargethan, und dadurch alles, was das
Schicksal Kaspar Hausers betrifft, in das helle Gebiet der Wahrscheinlich—
keit und Wirklichkeit gerückt. Der Verfasser — denn man gerät sogleich
auf die Annahme eines sfolchen, da manche eingestreute Erörterungen
und Gedanken sogar an die neueste und uns hier in Berlin zunächst
liegende Philosophie (richtig! an Hegel und an die „dialektische Ver—
kehrung des Satzes in sein Gegenteil“) erinnern — hat die vor—
handenen Data, wie sie vornehmlich durch Feuerbach festgestellt oder
angedeutet sind, mit einer feinen und sinnreichen Kunst zu kompo—