Volltext: Eine anonyme deutsche Gottesdienstordnung aus der Reformationszeit

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(XIII, 737). Freilich, diese „darstellende Mitteilung des stärker erregten religiösen Bewußt— 
seins“ (XIII, 75) wird nicht lediglich Darstellung an sich bleiben können. Die einmal erregten 
Wellen wogen unwillkürlich weiter. Eine allgemeine „Belebung und Erhöhung“ der „reli— 
giösen Gefühle“ (Pred. J, 180) ist die natürliche Folge. Da aber belebte und erhöhte Gefühle 
ihrerseits immer den Willen beeinflussen, so wird der öffentliche Gottesdienst unwillkürlich 
auch „ein kräftiges Mittel ...., uns zum Guten zu ermuntern und unseren frommen Ent— 
schlüssen neue Kraft und neues Leben mitzuteilen“ (Pred. J, 177); es stellt sich von selbst ein 
die „erbauende“ Wirkung, „d. h. eine Wirkung auf die Gemeine, welche von dem 
Gefühl auf den Willen geht“ (XII, 59). Dabei ist der Kultus auch fähig, belehrend 
zu wirken, indem „eine immer genauere Einsicht in die allgemeineren und wichtigsten Wahr— 
heiten ... und eine innige Bekanntschaft mit dem Zustand des eigenen Herzens bewirkt 
wird“ (J. 174). Darum ist die verkehrte Auffassung der Kirche als einer „Lehranstalt“ und 
des Gottesdienstes als eines bloßen Mittels, „die christliche Frömmigkeit zu befestigen und zu 
mehren“, wohl zu verstehen, aber dennoch zurückzuweisen. Wäre diese Auffassung die richtige, 
„so hätte man nie diejenigen vom Gottesdienst ausschließen dürfen, die der Belehrung am 
meisten bedurften, und doch hat man dies von Anfang an gethan, also vorausgesetzt, die 
Teilnahme am Gottesdienst dürfe nicht vom Gefühl des Mangels ausgehen“ (XII, 52). Zu— 
rückzuweisen ist auch die Vorstellung, als könne man mit dem Kultus „Gott einen Dienst 
erweisen“; Gottesdienst ist „nicht Diensterweisung, sondern Dienstbezeugung; 
es liegt darin nur, daß sich der eine als Organ des andern darstellt. Gottesdienst ist also 
der Inbegriff aller Handlungen, durch welche wir uns als Organe Gottes vermöge des gött— 
lichen Geistes darstellen“ (XII, 525 f.). An allen diesen Handlungen können demgemäß mit 
Segen nur die teilnehmen, die sich als „Organe Gottes“, als „schlechthinig abhängig“, als 
„mit Gott in Beziehung“ fühlen. Oder anders ausgedrückt: „Der öffentliche Gottes— 
dienst ist eigentlich nur für die Menschen, die religisös sind, ebenso wie die ge— 
selligen Vereinigungen nur für Menschen, die schon fröhlich sind. So wie ein Mensch, der 
nicht fröhlich ist, auch nicht gern in solche Vereinigungen geht: so wollen Menschen, die nicht 
religiös sind, auch nicht in den öffentlichen Gottesdienst gehen“ (XIII, 73). 
Aus alle dem könnte man, was „die Form des Gottesdienstes“ angeht, folgenden 
Schluß ziehen wollen: Man könnte die „Gleichheit aller Christen als zusammengehörig wegen 
des ihnen identisch innewohnenden Geistes“ betonen und um deswillen „Gleichheit im dar— 
stellenden Handeln“ erwarten. „Das finden wir aber nicht, sondern auch der christliche 
Gottesdienst ist so konstruiert, daß einzelnen dabei ein Üübergewicht an Thätigkeit, 
andern ein Übergewicht an Rezeptivität beiwohnt“ (XII, 541f.). Der Grund für 
diese Chatsache ist einleuchtend. Soll nämlich im Gottesdienst das „religiöse Leben zirkulieren“, 
„durch Darstellung mitgeteilt“ werden, so hat jeder einzelne „die zwiefache Aufgabe, einerseits 
sich den andern mitzuteilen, andererseits das Dasein der andern in sich aufzunehmen. Denn 
wo eine solche Duplizität ist, da kann nun nicht in einem gegebenen Momente ein absolutes 
Gleichgewicht bestehen, sondern es kann immer nur hergestellt werden durch einen Wechsel 
von partieller Unterordnung, und darin liegt der Grund, daß der Gleichheit subordiniert eine 
Ungleichheit vorhanden ist“ (XII, 542). In dieser Ungleichheit im öffentlichen Gottesdienst 
wird dem einzelnen seine Stellung dadurch angewiesen, daß „das Recht, produktiv auf— 
zutreten, an ein gewisses Maß von Talentbildung gebunden“ sein muß, „so daß 
sich selbst ausschließt von der Produktion in diesem darstellenden Handeln, wer sich eines 
solchen Maßes nicht bewußt ist“ (XII, 553). Doch gilt es auch hier, die Extreme zu ver— 
meiden, wie sie sich finden in der einen Richtung im Gottesdienst „der Quäker“, wo „größte 
Annäherung an die ursprüngliche Gleichheit angestrebt wird“, in der andern Richtung im 
„Meßgottesdienst“, wo „größte Analogie mit der Priesterreligion“ herrscht (XI, 542 f.). Ein— 
zelne besonders hervortretende Persönlichkeiten muß es geben; dieselben dürfen aber nie katho— 
lische „Priester“ sein; in der evangelischen Kirche müssen wir vielmehr den Klerus ansehen 
„als ein aus der Gesamtheit gebildetes Institut, das also keine andere Autorität hat als die 
ihm von der Gesellschaft übertragene: das ministerium verbi nicht gerade als einen besonderen
	        
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