Volltext: Zu Nürnberg

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Über's Jahr kam ich wieder vorbei. Die Lilie stand nicht 
mehr am Fenster. 
Neugier und Teilnahme hießen mich einen Blick durch die 
kleinen Fensterscheiben in das Innere des bescheidenen Gemaches 
werfen. Da sah ich die beiden Lilien! Die eine lag aufgebahrt 
im schneeweißen Sterbehemd, die mageren Händchen starr über 
der eingefallenen Brust gekreuzt, ein weißes Blütenkränzlein auf 
dem goldigen Haare, in den jungfräulichen Zügen den Ausdruck 
des Friedens. Die andere stand zu Häupten der Bahre; die 
volle weiße Blüte von dem geknickten Stengel herabhängend, 
neigte sich grüßend zu der stillen Schläferin hernieder, als wollte 
sie den farblosen Lippen den Schwesterkuß aufdrücken und sagen: 
„Ich komm mit!“ 
Zur Seite des CLagers kniete der alte Mann. Er hatte 
das greise Haupt, im herben Schmerze schluchzend, in das 
wallende Totengewand der Entschlafenen vergraben. 
Erst zwanzig Lenze waren über dem 
blonden Scheitel seines Kindes erblüht 
und verweht — und nun 
schlummerte es einem unver— 
gänglichen Lenze entgegen! — 
„Friede Dir, armes Mäd— 
chen!“ sagte ich für mich. „Es 
ist besser se Dein Maler wäre 
doch nicht wiedergekehrt!“ — 
Er ist indeß wohl mancher 
andern Blume begegnet! 
— — 
* 
* 
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Das lichte Blau des 
Hinter der Mauer bei der Kaiserstallung. Vergißmeinnicht ist von jeher 
meine Lieblingsfarbe gewesen, deshalb erfreute mich ganz be— 
sonders ein kleiner viereckiger Holzkasten, der einem der Fenster— 
gesimse der Häuslein hinter der Mauer bei der Kaiserstallung
	        
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