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Über's Jahr kam ich wieder vorbei. Die Lilie stand nicht
mehr am Fenster.
Neugier und Teilnahme hießen mich einen Blick durch die
kleinen Fensterscheiben in das Innere des bescheidenen Gemaches
werfen. Da sah ich die beiden Lilien! Die eine lag aufgebahrt
im schneeweißen Sterbehemd, die mageren Händchen starr über
der eingefallenen Brust gekreuzt, ein weißes Blütenkränzlein auf
dem goldigen Haare, in den jungfräulichen Zügen den Ausdruck
des Friedens. Die andere stand zu Häupten der Bahre; die
volle weiße Blüte von dem geknickten Stengel herabhängend,
neigte sich grüßend zu der stillen Schläferin hernieder, als wollte
sie den farblosen Lippen den Schwesterkuß aufdrücken und sagen:
„Ich komm mit!“
Zur Seite des CLagers kniete der alte Mann. Er hatte
das greise Haupt, im herben Schmerze schluchzend, in das
wallende Totengewand der Entschlafenen vergraben.
Erst zwanzig Lenze waren über dem
blonden Scheitel seines Kindes erblüht
und verweht — und nun
schlummerte es einem unver—
gänglichen Lenze entgegen! —
„Friede Dir, armes Mäd—
chen!“ sagte ich für mich. „Es
ist besser se Dein Maler wäre
doch nicht wiedergekehrt!“ —
Er ist indeß wohl mancher
andern Blume begegnet!
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8
Das lichte Blau des
Hinter der Mauer bei der Kaiserstallung. Vergißmeinnicht ist von jeher
meine Lieblingsfarbe gewesen, deshalb erfreute mich ganz be—
sonders ein kleiner viereckiger Holzkasten, der einem der Fenster—
gesimse der Häuslein hinter der Mauer bei der Kaiserstallung