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beiden gleich schwaͤrmerisch vorhandenen Neigungen
die Wagschale hielten, an welcher das lyrische
Empfinden gleichsam das Zuͤnglein bildete, hin—
und herschwankend zwischen beiden, und beide
gerecht bedenkend, solange ist Frau von Greiffen⸗
berg eine echte Dichterin gewesen. Das uͤberge—
wicht nach der einen oder anderen Seite mußte
die Ertotung des wahren, einem Dritten sich
mitteilenden und von ihm verstandenen dichterischen
Gefuͤhls mit sich bringen. Suͤr die in unbe—
greiflicher Weise sich steigernde „Seelenbrautschaft“
mit Christo finden sich Ursachen verschiedener Art.
Das Ungluͤck der Kinderjahre, welches gelegent⸗
lich seine Schatten uͤber einzelne Sonette wirft,
das Verlassen der Heimat, die viele Einsamkeit,
haͤufige Krankheit und endlich eine allzu aus⸗
giebige Bekanntschaft mit theosophischen und
mystischen Schriften treffen zusammen. Dem un⸗
parteiischen Beobachter obliegt es, diese Charakter⸗
aͤnderung als eine fuͤr die Dichtung ausschlag⸗
gebende schon anfangs zu betonen. Sie ist der
Grund, daß allein die Jugendsonette, oder richtiger
gesagt, die Sammlung der Sonette eine dauernde
Beachtung verdienen.
„Gott lieben,“ schreibt Pico della Mirandola
einmal, „koͤnnen wir weit eher als ihn erkennen
oder durch die Sprache ausdruͤcken.“ „Wer darf
ihn nennen!“ sagt tiefsinnig Goethe, „und wer be⸗—
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