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Genuß sucht, für den ist dies Werk gewiß nicht das beste, das
fertigste, aber doch wohl das interessanteste des Meisters: hier ist
das Wollen, die Anspannung der künstlerischen Energie, am stärksten
zu fühlen.
Ich habe nie mit einem Künstler über dies Bild gesprochen,
ich weiß nur zufällig, daß es ein bedeutender Maler unserer Zeit
für das schönste Bild der Dresdener Galerie erklärt hat; und zwar
ganz ernsthaft. Früher bewunderte man alles, was klassisch war,
was absolut vollendet war oder schien — so auch auf dem Gebiet
der Kunst. Der zeitgenössischen Kunst konnte man nichts besseres
raten, als irgend eins der klassischen Gebilde nachzuahmen. Heute
ist es anders, man will nicht rückwärts sehen, sondern vorwärts, man
sucht selbst etwas zu schaffen — wie viel geleistet ist, wer möchte
das beurteilen? aber jedenfalls das Streben ist da, und von ihm
aus urteilt man: man will sehen, daß ein Künstler mit aller Kraft
vorwärts strebt, man will genießen, wie dies persönliche Streben
das‘ Kunstwerk bis in die feinsten Fasern durchdringt und belebt.
Wenn aber die Entwicklung eines Künstlers oder einer Kunstgruppe
so weit ist, daß ein erlernbarer geschlossener Zusammenhang fester
und ineinandergreifender Gesetze den größten Teil der künstlerischen
Schöpfung bedingt, dann bleibt natürlich für die Anspannung des
einzelnen viel weniger Raum, unser Interesse nimmt entsprechend
ab; mögen die Werke an sich, objektiv, noch so vollendet sein.
Wo also das Hochplateau einer irgendwie klassischen Kunst erreicht
ist, da friert es uns; wenn nicht ganz besondere persönliche
Energien auf dem Plan sind. Wer dem Geschmack unserer Zeit
ferner steht, der mag vielleicht glauben, daß man Fehlerhaftes liebe
aus krankhafter Lust eben an den Fehlern; daß man statt des gött-
lichen Raffael die Primitiven liebe, bloß weil sie nicht genug von
Anatomie und Perspektive und klassischer Komposition verstehen —
aber hat man je ein Werk etwa des 1ı7. Jahrhunderts geliebt, weil
es verzeichnet war? Man liebt die Primitiven nicht, weil sie Fehler
haben, sondern obwohl sie Fehler haben, weil sie unermüdlich vor-
wärts streben, weil sie mit größtem Ernst und größter Anspannung
arbeiten: wir lieben die psychische Energie, die das Werk geschaffen