Volltext: Dürers Dresdener Altar

38 
Genuß sucht, für den ist dies Werk gewiß nicht das beste, das 
fertigste, aber doch wohl das interessanteste des Meisters: hier ist 
das Wollen, die Anspannung der künstlerischen Energie, am stärksten 
zu fühlen. 
Ich habe nie mit einem Künstler über dies Bild gesprochen, 
ich weiß nur zufällig, daß es ein bedeutender Maler unserer Zeit 
für das schönste Bild der Dresdener Galerie erklärt hat; und zwar 
ganz ernsthaft. Früher bewunderte man alles, was klassisch war, 
was absolut vollendet war oder schien — so auch auf dem Gebiet 
der Kunst. Der zeitgenössischen Kunst konnte man nichts besseres 
raten, als irgend eins der klassischen Gebilde nachzuahmen. Heute 
ist es anders, man will nicht rückwärts sehen, sondern vorwärts, man 
sucht selbst etwas zu schaffen — wie viel geleistet ist, wer möchte 
das beurteilen? aber jedenfalls das Streben ist da, und von ihm 
aus urteilt man: man will sehen, daß ein Künstler mit aller Kraft 
vorwärts strebt, man will genießen, wie dies persönliche Streben 
das‘ Kunstwerk bis in die feinsten Fasern durchdringt und belebt. 
Wenn aber die Entwicklung eines Künstlers oder einer Kunstgruppe 
so weit ist, daß ein erlernbarer geschlossener Zusammenhang fester 
und ineinandergreifender Gesetze den größten Teil der künstlerischen 
Schöpfung bedingt, dann bleibt natürlich für die Anspannung des 
einzelnen viel weniger Raum, unser Interesse nimmt entsprechend 
ab; mögen die Werke an sich, objektiv, noch so vollendet sein. 
Wo also das Hochplateau einer irgendwie klassischen Kunst erreicht 
ist, da friert es uns; wenn nicht ganz besondere persönliche 
Energien auf dem Plan sind. Wer dem Geschmack unserer Zeit 
ferner steht, der mag vielleicht glauben, daß man Fehlerhaftes liebe 
aus krankhafter Lust eben an den Fehlern; daß man statt des gött- 
lichen Raffael die Primitiven liebe, bloß weil sie nicht genug von 
Anatomie und Perspektive und klassischer Komposition verstehen — 
aber hat man je ein Werk etwa des 1ı7. Jahrhunderts geliebt, weil 
es verzeichnet war? Man liebt die Primitiven nicht, weil sie Fehler 
haben, sondern obwohl sie Fehler haben, weil sie unermüdlich vor- 
wärts streben, weil sie mit größtem Ernst und größter Anspannung 
arbeiten: wir lieben die psychische Energie, die das Werk geschaffen
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.