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Kämpfen an sich selbst erfahren, dass Gott überall zu finden sei,
im weltlichen Wissen so gut wie in den geistlichen Studien, und dass
es keinen besonderen Stand gebe, der vor Gott grössere Heiligkeit
habe, noch auch eine einzelne Wissenschaft, die allein den Frieden
der Seele verleihe, sondern dass jede ehrliche Thätigkeit und
Wissenschaft, jeder ehrliche Beruf und Stand zu Gott führen
könne, vor Gott gleich gelte und gleich heilig sei, dass alle
Kreatur und Welt dem Menschen zur Forschung offen stehe, weil
sie alle schliesslich doch auf Gott zurückführen, in ihm ihr Ziel
finden.
Wie tröstlich mag das dem Künstler der Melancholie in’s
Ohr getönt haben! Begierig hat er die neue alte Botschaft in
sich aufgenommen, denn wir finden ihn, wie das gar nicht anders
zu erwarten war, sogleich als eines der eifrigsten Mitglieder in der
Gemeinde der Anhänger der Reformation.! Im Jahre 1520 äus-
sert Dürer in einem Briefe an Spalatin, worin er sich für die
Uebersendung einiger Luther’scher Schriften bedankt: „Und hilft
mir Gott, dass ich zu Doctor Martinus Luther kumm, so will ich
ihn mit Fleiss kunterfetten und in Kupfer stechen, zu einer langen
Gedächtnus des christlichen Manns, der mir aus grossen
Aengsten geholfen hat.“ — Wir verstehen jetzt im Hinblick
auf die beiden Gegenbilder des Jahres 1514 vielleicht noch besser
und vielseitiger als bisher, welcherlei „Aengste‘“ es waren, die das
Herz des in enger Gesetzlichkeit aufgewachsenen Meisters bedrück-
ten. Es ist ein Stück innersten Eigenlebens und doch zugleich ein
gewaltiger Ausschnitt aus dem Seelenlehen des deutschen Volkes
amı Vorabend der Reformation, was uns Dürers Melancholie und
Hieronymus im Gehäus offenbaren.
I
1 Vgl. dazu Zucker, Dürers Stellung zur Reformation, Erlangen
1886. K. Lange, War Dürer ein Papist? Grenzboten 1896, 266 fß.,
neuerdings zusammenfassend in Zucker’s Dürer, Halle 1900, das Kapitel:
Dürers Stellung zur Reformation.