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sriff, in welchen seine Phantasie sich freier und selbständiger be-
wegen konnte. Er beharrte in der biblischen Welt, verlegte aber
den Schauplatz aus den Lüften und jenseitigen Regionen auf die
wirkliche Erde, rückte die Schilderung der rein menschlichen Empfin-
dung näher. Wahres, dramatisches Pathos konnte er in der Leidens-
geschichte Christi entfalten, im Marienleben ein idyllisches Bild des
stillen Friedens, cines trauten Familienlebens zeichnen. Die Holz-
schnittfolge der Passion (die sogenannte grosse Passion) ist nur das
erste Glied in einer längeren Reihe von zusammenfassenden Dar-
stellungen der Leidensgeschichte. Solange Dürer künstlerisch thätig
war, bis in seine letzten Lebensjahre, kehrte er immer wieder zur
Passion zurück und suchte ihr neue Züge abzugewinnen, die ver-
schiedenen, seine Seele erfüllenden Stimmungen in den Passions-
bildern zum Ausdruck zu bringen. Dagegen gelang ihm die Ver-
herrlichung der Maria auf den ersten Wurf so vortrefflich, dass er
später kaum noch eine neue Seite seinem Madonnenideale ablauschen
konnte. Sein Ideal war aber die demütige, Ernstes sinnende Magd,
die still thätige, liebevolle Hausmutter. Um diese Natur und dieses
Wesen in voller Wahrhaftigkeit zu schildern, reicht die einzelne,
geschlossene Gestalt der Madonna nicht aus; sie muss uns vielmehr
in einer Reihe von Szenen handelnd und wirkend vorgeführt werden,
Daher ist Dürers Marienleben in der Ausgabe von 1511, nachdem
er zu den 1501—1504 getretenen Holzschnitten noch drei neue
hinzugefügt hatte, zwanzig Blätter umfassend, für das Verständnis
seines und, wir dürfen wohl sagen, des deutschen Volkes Madonnen-
ideals wichtiger als die einzelnen, in verschiedenen Jahren geschaf-
fenen Madonnenbilder.
Dürers Marienleben lehnt sich an die Berichte der apokryphen
Evangelien an. Schon in den alten christlichen Zeiten genügten
dem naiven Volksglauben die Erzählungen der kanonischen Schriften
über das Leben und die Schicksale Christi nicht vollständig. Er
wünschte mehr Einzelheiten zu erfahren, Ausführlicheres, insbesondere
über die Jugend Christi, zu hören. So malte die geschäftige Phan-
tasie eine Reihe lebendiger Bilder aus, welche in der Erinnerung
der Menschen ein Jahrtausend lang hafteten und insbesondere Dich-
tern und Künstlern das ganze Mittelalter hindurch mannigfache
Anregungen boten. Freier als bei der Apokalypse war diesmal
seine Stellung. Er war an den Stoff, aber nicht an feststehende
Formen gebunden; selbst die Wahl der Szenen blieb seiner künst-
lerischen Einsicht überlassen, da ja die apokryphen, durch die Dich-