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scheinen die Regeln (canones), nach welchen der christliche Ritter
leben soll, verwandt mit der Schilderung in Dürers Stiche. Der
christliche Ritter hat auf dem rauhen Pfade der Tugend mit den
drei schlimmsten Feinden, dem Fleische, dem Teufel und der Welt,
zu kämpfen. Er soll aber alle diese Spukgestalten und Gespenster
verachten wie der Virgilsche Acneas (Can. 3). Auch das soll er
5cdenken, dass der hinterlistige Tod überall lauert und plötzlich
lie Ahnungslosen überfällt (Can. 23).
Wahrscheinlich hat die Beschäftigung mit den Schriften des
von Dürer hochverehrten Erasmus in dieser Zeit auch sonst seiner
künstlerischen Phantasie einzelne Anregungen geboten. Im Jahre
++ stach Dürer zwei grosse Blätter, welche wie der christliche
Ritter zu den berühmtesten Schöpfungen des Meisters gehören und
ebenfalls Dürers Traumwelt entsprungen sind, den Hieronymus im
Gehäus und die Melancholie. Der Kirchenvater sitzt in einem
geräumigen, von den Strahlen der durch die Butzenscheiben schei-
nenden Sonne erwärmten Gemache, in welchem allerhand Haus-
gerät wohlgeordnet an den Wänden prangt, an einem Tische und
schreibt emsig, mit dem Ausdrucke vollkommener Glückseligkeit
über die Arbeit. Im Vordergrunde liegt, müde mit den Augen
blinzelnd ein Löwe, ihm zur Seite schläft ein Spitzhund. Alles,
die Hauptgestalt wie die Nebendinge, die ganze Szene atmet tiefsten
Frieden, stille Heiterkeit, behagliche Ruhe. Ganz anders ist die
Melancholie. Eine mächtige, geflügelte Frauengestalt, das Gesicht
völlig in Schatten gestellt, sitzt am Fusse eines Pfeilers. Sie stützt
lie Wange auf die Linke, hält unbewusst einen Zirkel in der andern
Hand und starrt mit ihren grossen Augen wie verloren in die
Ferne. Ihr zur Seite hat ein geflügelter Knabe einen Mühlstein
bestiegen und zeichnet sitzend etwas auf ein Täfelchen. Auch
hier ist der Raum mit allerhand Gerät angefüllt. Aber keine
ordnende Hand hat es aufgestellt, wirr durcheinander liegt es auf
dem Boden. Es dient nicht dem häuslichen Behagen, lässt uns
in kein gemütliches Heim blicken, weist vielmehr auf die Beschäf-
tigung mit allerhand Künsten und Wissenschaften hin. Ein Schmelz-
tiegel, eine Kohlenzange, eine stercometrische Figur, Hobel,
Säge, Lineal, Spritze fallen zunächst in das Auge. Dass hier der
grübelnde Verstand herrscht, deutet das Zahlbrett mit vier Ziffer-
reihen an, welche nach unten oder oben, nach rechts oder links
oder schräg gelesen, immer die gleiche Summe ergeben. Die
heiden Blätter sind Gegenstücke, jedes ergänzt das andere.
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