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Gründe? Meinen Sie wirklich, Sie könnten die
ganze Grundlage meiner Moral mit Worten über
den Haufen werfen?“
„Ihr Urteil?“
„Ja. Ich habe solche Männer, die so leichten
Herzens ihre Gunst verschenkten — Sie sehen, ich
ehme mir Ihre graziöse Ausdrucksweise an —,
teis als Schwächlinge und moralisch Defekte be—
frachtet.“
„Herr Rottmann!“ Haßner fuhr auf, beleidigt
und getroffen in seinem Stolz.
„Ja! Denn Euch treibt keine große Leidenschaft,
kuch treibt nicht eine zwingende Liebe! Euch fehlt
aur die Kraft, Eure Begierden zu zügeln, Euch
fehlt die Selbsterziehung, die wahre Männlichkeit!
hätten Sie dies Mädchen geliebt, ständen Sie vor
mir als Beichtiger einer tollen Leidenschaft, die
überwunden isi, dann würde sich nicht meine Liebe
und Achtung von Ihnen wenden. Aber so stehen
Zie vor mir, pochend auf ein Mannesrecht, das ich
keinem Mann zuerkenne. Nein, wir verstehen uns
nicht. Wir gehen immer weiter voneinander.“
Haßner blickte den Eifernden stumm an. Auch
er fühlte plötzlich die gewaltige Verschiedenheit ihrer
Anschauungen. Niemals auf dem Rathaus war
ihm Rottmann so deutlich geworden in seiner Er—
scheinung wie jetzt. Er wollte erwidern, ruhig wie
er jetzt geworden. Er fühlte sich nicht schuldig,
nein, und Anne würde denken lernen wie er.
Da öffnete sfich die Tür und Anne kam herein.
Ihr Gesicht war entstellt von den heißen
Tränen. Aber sie war sorgfältig angekleidet und
frifiert. Und der Zwang, dessen sie dazu bedurft