Johannes Bolte,
Märchen- und Schwankstoffe im deutschen
Meisterliede.
III
Johannes Bolte
No immer gilt vielen die Poesie der Meistersänger des 15. bis
17. Jahrhunderts für ein besonders langweiliges und unerfreu-
liches Kapitel der Litteraturgeschichte, obschon die 1870 von Goedeke
veröffentlichte Auswahl von Meisterliedern des Hans Sachs eines
Bessern belehren kann. Denn es treten uns hier dieselben Züge einer
grofsen Dichterpersönlichkeit wie in seinen aus ihnen hervorgegangenen,
oft nur durch geringe Anderungen verschiedenen Spruchgedichten
entgegen. Allerdings ist es schwer, sich einen Überblick über die
Entwicklung des Meistersanges zu verschaffen. Die zahlreichen, weit
verstreuten Handschriftenbände*) enthalten das Material in ungeord-
neter und unübersichtlicher Gestalt, weil oft Überschrift, Verfasser
und Entstehungsjahre fehlen; zwar wird man, da die Tätigkeit des
Hans Sachs quantitativ und qualitativ die seiner Zeitgenossen weit
überragt, bei anonymen Liedern oft seine Urheberschaft vermuten,
indes, so lange das Register seiner Meisterlieder noch nicht gedruckt
ist, nicht immer zur Gewifßsheit gelangen.
Trotz dieser Schwierigkeiten reizt ein mehrfaches Interesse zur
Erforschung dieser Litteraturgattung. Den einen zieht die Entwicklung
der künstlichen Strophenform und die Bildung der Melodie an; der
Hans Sachs-Kenner findet hier die Vorstufen für die meisten zum
Drucke gelangten Spruchgedichte des Nürnberger Meisters; und wer
auf die Wandrung und Wandlung der poetischen Motive und Novellen-
stoffe sein Augenmerk richtet, wird den Stoffquellen der Meisterlieder
und ihre Einwirkung auf spätere Litteraturwerke nachspüren. In
letzterer Hinsicht sei nur auf die Schwanksammler Valentin Schumann
und Martin Montanus hingewiesen; wenn der erstere in seinem 1559 ge-
druckten Nachtbüchlein**) sieben Meisterlieder des Hans Sachs, die
er während seines Aufenthalts in Nürnberg kennen gelernt hatte,
*) Goedeke, Grundrifs ? 2, 248—252, wozu noch manches nachzutragen ist,
**) Ausgabe von J. Bolte, Tübingen 1893 S. XIX. Es sind die Nummern 3, 9,
24, 25, 34, 47, so. Vgl. zu 3 unten Nr. XIV, zu 24 Nr. X.